... flüchten aus dem Klon-Konzentrationslager
Menschliche Laborratten
Seit kurzem läuft in den Kinos eine filmische Auseinandersetzung zum Thema Klonen, die ich, entgegen meiner ständigen Unkenrufe gegen das US-Kino, höchst gelungen fand. Die Insel erzählt auf Umwegen aber auch eine Geschichte der Geschwindigkeit.
8. April 2017, 21:58
Erinnern sie sich noch, als Sandra Bullock und Keanu Reeves mit einem Bus (und Dennis-Hopper-Bombe an Bord) durch eine amerikanische Großstadt rasten und nicht anhalten durften, weil die Bombe sonst vom Bösewicht gezündet werden würde? Speed" hieß der Streifen. Den Kino-Schreibern aber auch dem Publikum war damals klar, einen schnelleren Ritt über Asphalt, eine rasanter geschnittene Geschichte hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Was ich allerdings ein wenig anzweifelte. Denn Geschwindgkeit ist eine Sache der persönlichen Wahrnehmung und Sozialisation.
Die Wahrnehmung von Geschwindigkeit
Seit ich aber vor wenigen Tagen den neuesten Film von Michael Bay - Die Insel" - gesehen habe, ist diese persönliche Wahrnehmung, die viele Jahre gehalten hatte, zurecht gerückt worden. Die Insel" ist ein futuristischer Action-Thriller und ich muss dazu sagen: der Extraklasse. Der Streifen ist an Schnelligkeit, die bis zur Unerträglichkeit, ja zur Schwindligkeit reicht (zumindest bei mir), kaum zu übertreffen. Aber in ein paar Jahren wird auch das wahrscheinlich wieder zurecht gerückt werden müssen. Wer weiß was da noch kommt. Michael Bay hatte mich mit seinen Vorgänger-Filmen Armageddon" und The Rock" nicht überzeugen können. Doch diesen Mal hat er mich erreicht und überzeugt. Bay hat mich in einen wahren und grausig-prophetischen Geschwindigkeits-Rausch gesogen.
Im Eiltempo durch die Zukunft
Mir ist natürlich klar, dass die wirklich jungen Menschen unter uns, also die 16- bis sagen wir 20-jährigen, mit den sekunden-kurzen Schnitt-Gegenschnitt-Bild-Abfolgen (die dann auch in sich noch recht bewegt sind) aus den Musik-Videos und aus den X-Boxes sicherlich um einiges besser vertraut sein dürften. Aber nichtsdestotrotz: Anstrengen dürften auch die sich bei Die Insel".
Die Geschichte spielt in einem utopischen Konzentrationslager für menschliche Klone im Jahre 2019, irgendwo unter der Erdoberfläche des US-Bundesstaates Arizona. Wir haben also nicht mehr weit bis in die Zukunft. Der Plot könnte auch sonstwo angesiedelt sein. Treffender aber natürlich in der Nähe der Stadt der Engel. In der sich ja bereits heute die Schönheitschirurgen wie Götter über die menschliche Spezies erheben und denken, sie könnten sie perfekter und ewig jung gestalten.
Wandelnde Lebensversicherung
Dazu allerdings braucht es Menschen - zumindest in Michael Bays Film - die verrückt und reich genug sind, für eine lebendige, herangezüchtete Lebensversicherung nach ihrem Ebenbild zu bezahlen. Als wandelndes Ersatzteillager werden die Klone in dieser unterirdischen Welt mit brutalsten Methoden nieder gehalten und wissen von ihrer Existenz nur soviel, was man ihnen implantiert hat. In diesem hermetisch abgeriegelten High-Tech-Bio-Institut aus edler Glas- und Stahlarchitektur, mit unzähligen Überwachungsmonitoren, laufen nur sportlich weiß gekleidete (Product Placement: Puma) Klone herum und warten, bis sie endlich, wie viele vor ihnen, im Lotto gewinnen um aus dem Konzentrationslager (das für sie die Welt ist) auf die Insel gehen zu dürfen - ins Paradies. Doch was und wo ist das Paradies? Zwischendurch-Bemerkung: Im wahren Leben halten mich doch auch beim Zigarettenkauf alle mit ihren doofen Lotto-Scheinen auf. Ich fordere weiße Anzüge für alle Lotto-Spieler. Wär doch lustig, hm?
Im Paradies wartet der Tod
Doch die Insel ist nur eine schaurige Metapher dafür, dass der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die sogenannten Sponsoren auf ihre Klone zurückgreifen wollen, weil sie eine neue Leber, ein Herz, ein Bein oder was auch immer brauchen. Dann wird gekillt und ein neues Wesen aus einer Fruchtblase geholt. Klone können auch Kinder für ihre Sponsoren kriegen. Das einige dieser Wesen selbstständig zu denken beginnen, damit haben die brutalen Bio-Techniker und -"Kloniseure" nicht gerechnet. Schon am Beginn des Films ist eine Traumsequenz zu sehen, die an geschnittener Geschwindgkeit und Rasanz nichts vermissen lässt. Hauptdarsteller Ewan McGregor (der Klon mit Namen Lincoln Six-Echo) träumt sich in die Welt seines Sponsors, des geschwindigkeitsbesessen Designers und Konstrukteurs Tom Licoln. Doch davon mehr im Kino.
Metapher Geschwindgkeit
Wo das Kino-Auge hinblickt in Die Insel" - Geschwindigkeit. Real" und metaphorisch. In den Verfolgungsjagden der aus dem KZ flüchtenden Klone Ewan McGregor (Lincoln Six-Echo) und Schauspiel-Partnerin Scarlett Johansson (Jordan Two Delta) und den Bio-Tech-Polizisten. In den aerodynamisch-styligen Formen und Designs der Fortbewegungsmittel Auto (Gastauftritt Steve Buscemi Spitzenklasse), LKW, Motorrad und Zug. In den Stunts. In den Traumsequenzen der sich über ihre Indoktriniertheit langsam heraus emanzipierenden Klone.
Und während in der richtigen Welt das nächste Klon-Wesen, der südkoreanische Hund Snuppy" sich seines öffentlichen TV-Lebens erfreut (True Man, sorry Dog, Show), scheint uns Michael Bay mit seinen symbolhaften Bildern und Formen sagen zu wollen: wir rasen mit unkontrolliertem Speed in eine Welt, die uns rechts überholen wird.
Film und Literatur (Sternberg, Orwell, Lang und Co.) haben in den letzten 100 Jahren vieles prophezeit, was tatsächlich eintraf. Und auch wenn wir uns vielleicht noch lange nicht in einem George Lucasschen Star Wars befinden werden, oder in einer Welt in der es den Reichen gelingt sich Klon-Ebenbilder als Lebensversicherung züchten zu lassen, ist zu sagen: Alles was angedacht wird muss nicht werden ist aber machbar. Beängstigend genug. Finden sie nicht? Der Film wird dann ein Leben sein.
Und Die Insel" zeigt: So kann Kino sein. Themen abzuhandeln, die uns nicht dumm, sondern reflektierter machen. Dinge die für den Fortbestand der Welt von Bedeutung sind. Storys, die uns nicht abstumpfen, sondern aufmerksam machen, nachdenklich. Denn Gewalt ist nicht nur Gewehr, Mord- und Totschlag à la herkömmliches Hollywood-Kino und täglich Fernsehen. Krieg ist überall, auch wo man nicht hinschaut.
P.S.: Für alle noch nicht weiß gekleideten Lotto-Spieler: Den Jackpot (Die Insel") gibts nicht.