Parvenü der Erkenntnis

Bekenntnisse des "Hochstaplers" Thomas Mann

"So war ich nacheinander ein gelernter Mediziner und Biologe, ein firmer Orientalist, Ägyptolog', Mytholog' und Religionshistoriker, ein Spezialist für mittelalterliche Kultur und Poesie und dergleichen mehr". So war ich Thomas Mann. Eine Annäherung zum 50. Todestag.

Wer im Laufe seines Lebens so viele Berufe ausgeübt hat wie Thomas Mann, muss entweder ein begnadeter Hochstapler oder Schriftsteller gewesen sein. Was die Profession des Naturwissenschaftlers anbelangte, vereinte Thomas Mann beide Rollen in seiner Person. So mancher Kritiker spricht neuerdings von einem "Parvenü der Erkenntnis".

Für Alfred Döblin war er das Musterbeispiel großbürgerlicher Degeneration, für Marcel Reich-Ranicki ist er der bedeutendste deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

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"Hochstaplerisches" Talent

Thomas Mann starb vor 50 Jahren, am 12. August 1955, in Zürich. Ein Jahr zuvor hatte er mit dem "Kuckuck-Kapitel“ in seinem unvollendeten Spätwerk "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" eine literarische Synthese seiner lebenslangen Beschäftigung mit den Naturwissenschaften vorgelegt. Von der Forschung wurde sie bislang weitgehend ignoriert.

Wie sein Romanheld Felix Krull beweist der Sitzenbleiber, Bildungsbürger und Literaturnobelpreisträger darin hochstaplerisches Talent - im besten literarischen Sinn. Durch Sprach- und Erzählkunst gelingt dem literarischen Magier Thomas Mann die Verzauberung des naturwissenschaftlichen Kosmos.

Krull meets Kuckuck

Held des Abenteuer- und Schelmenromans ist ein junger, schöner Mann, ausgestattet mit der Gabe, beiderlei Geschlechter für sich einzunehmen. Ein Künstlermensch, Fantast und Träumer, ein bürgerlicher Nichtsnutz von zweifelhafter Herkunft: Felix Krull. Der Sohn eines bankrotten rheinischen Champagnerfabrikanten, ehemaliger Liftboy, Dieb und Verkörperung des mythischen Hermes, befindet sich als Double des Luxemburger Aristokraten Marquis de Venosta auf Weltreise.

Im Speisewaggon des Zuges von Paris nach Lissabon trifft der Hochstapler auf den Paläontologen und Direktor des Lissaboner Naturhistorischen Museums, Professor Kuckuck. Zwischen den beiden Romanfiguren entwickelt sich ein Gespräch über Biologie und Kosmologie. Zunächst stellt Professor Kuckuck dem Hochstapler Krull seine paläontologische Sammlung vor, die er über Jahre für das Lissabonner Museum zusammengetragen hat, um die Entwicklungsstufen des Lebens möglichst geschlossen darstellen zu können.

Das Gespräch zwischen Professor Kuckuck und Felix Krull, dem vermeintlichen Marquis de Venosta, ist nach den Dialogen der Lotte in Weimar und dem Teufelsgespräch des Doktor Faustus das letzte der "großen Romangespräche" Thomas Manns. Es handelt von der Entstehung des Kosmos und Lebens. Professor Kuckuck macht seinen gebannt lauschenden Zuhörer mit dem Prozess der Evolution und dem Urknallmodell vertraut.

In "biologischem Rausch" geschrieben

Zweimal hatte Thomas Mann vor Abfassung des Krull das Naturhistorische Museum in Chicago besucht. Was der Schriftsteller zu sehen bekam, glich der Kulisse aus Steven Spielbergs Film "Jurassic Park": Das Ur-Leben entfaltete sich dort vor den Augen des Autors: 50 Millionen Jahre alte Schwämme, Querschnitte von Muscheln, Skelette von Reptil-Monstern, Eier gebärende Säugetiere mit Tragtaschen, Menschenaffen, Neandertaler, "plumpnackig, mit blutigen Knien".

Beide Male verließ Thomas Mann das Museum nach eigener Aussage angeblich in Hochstimmung in einem "biologischen Rausch". Natürlich interessierte Thomas Mann im Krull am Evolutionsprozess vor allem die Menschwerdung, die "Wandlung des Organischen" zum Menschen hin, der Weg vom Tier zum Halbgott, wie spätere Evolutionsbiologen das keck ausdrückten.

"The Universe and Mr. Einstein"

Für den biologischen Teil im Felix Krull hat sich Thomas Mann auch in die tausendseitige "Allgemeinen Biologie" von Oscar Hertwig eingelesen; wie immer wurde fleißig angestrichen und exzerpiert.

Zur entscheidenden Vorlage für den kosmologischen Teil wurde "The Universe and Mr. Einstein" von Lincoln Barnett aus dem Jahr 1948: Hatten seine früheren Betrachtungen zur Physik gelegentlich Anlass zu Kopfschütteln gegeben, so findet sich im Spätwerk Felix Krull wenig, was als verquast-mystische Kosmogonie bezeichnet werden könnte. Bereits im "Zauberberg" sinnierte Hans Castorp über Anfang und Ende der Zeit, und im "Doktor Faustus" erzählte der stockhumanistische Chronist Serenus Zeitblom von den Spekulationen des Tonsetzers Adrian Leverkühn über den Urknall, das Alter, die Größe und die Struktur des Universums. Diese Themen greift Professor Kuckuck im Speisewaggon des Zuges von Paris nach Lissabon wieder auf.

Abschreiben auf höherer Ebene

Thomas Mann machte sich bei der Lektüre Anstreichungen zum "Wiederlesen". In den Notizbüchern kann man die Linien von den Anstreichungen zu den in die Texte einfließenden Passagen verfolgen. Sie zu verwischen, hat Thomas Mann sich nie die Mühe gemacht. Was einen Strich bekam, wurde später ins Werk gesetzt, manchmal fast wortwörtlich.

Als "Abschreiben auf höherer Ebene" bezeichnet der Autor selbst sein "Annäherungsverfahren". Etwas despektierlich könnte man sagen: Der Literaturnobelpreisträger hat bei den Naturwissenschaftlern gestohlen - und müsste hinzufügen, man ist ihm dankbar dafür: So wurde durch kleine stilistische Eingriffe aus trockenem Diebesgut bekömmliches Lesefutter.

Im Schatten von Albert Einstein

Thomas Mann und Albert Einstein waren Zeitgenossen. Die zwei Zauberer auf ihrem Gebiet starben vor genau einem halben Jahrhundert. Im "Weltjahr der Physik" steht der Schriftsteller etwas im Schatten des Physikers, allerdings scheint er davon auch zu profitieren.

In Anbetracht der intimen biografischen Outings der letzten Jahre darf sich Thomas Mann jedenfalls darüber freuen, dass man nun den "Naturwissenschaftler" in ihm entdeckt. Der blieb lange Zeit unkommentiert, weil die Literaturwissenschaftler die naturwissenschaftlichen Passagen geflissentlich überlasen und die Naturwissenschaftler sich bei dem Literaten nicht zuständig fühlten. Aber in als interdisziplinär ausgerufenen Zeiten werfen beide Disziplinen nun ein schärferes Auge aufeinander. Feuilletonchefs füllen ihre Seiten mit Evolutionsbiologie und Kosmologie - und plötzlich ragen Dinosaurier und Trümmerfelder aus Eisen, Stein und kosmischen Staub aus dem literarischen Kosmos Thomas Manns.

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TV-Tipp
Aus Anlass des 50. Todestages von Thomas Mann wiederholt ORF 2 den Dreiteiler "Die Manns" am 15., 22. und am 29. August. Auch der Kultursender 3sat würdigt den großen deutschen Schriftsteller mit mehreren Filmen.

Links
Thomas Mann
ETH Zürich - Thomas-Mann-Archiv
Buddenbrookhaus - Thomas-Mann-Gesellschaft