Politik der kleinen Schritte oder radikale Reformen?

Die "Beduinendemokratie"

Unter dem königlichen Motto "die Terrororganisationen 'ruhig stellen’, und ansonsten alles möglichst 'beim Alten' zu belassen" - so wird ein demokratischer Wandel in Saudi Arabien wohl nicht stattfinden. Dennoch gibt es erste Ansätze zu demokratischen Reformen.

Über Terrorakte im Königreich und Gegenmaßnahmen

Erstmals scheinen sich im Land des Erdöls, der streng konservativen Wahabiten und Osama Bin Ladens Ansätze für einen demokratischen Wandel abzuzeichnen. Radikale Reformen werden zwar nach wie vor von der Königsfamilie verhindert, doch der internationale Druck, die zunehmende Arbeitslosigkeit, aber auch die jüngsten Terrorakte gegen das eigene Land zwingen das Königreich Saudi Arabien immer mehr zum Umdenken.

Die ersten Kommunalwahlen

Im Februar wagte der Wüstenstaat erstmals in seiner Geschichte ein wenig Demokratie. Männliche Staatsbürger, die älter als 21 sind, konnten ihre Stimme bei politisch relevanten Wahlen abgeben. Rund 1.800 Kandidaten bewarben sich um 178 Sitze in Stadt- und Gemeinderäten. Frauen waren natürlich vom Urnengang ausgeschlossen. Auch Parteien traten bei diesen Wahlen nicht an, denn Parteien sind in der absoluten Monarchie Saudi Arabien verboten. Die Wähler entschieden sich für Einzelkandidaten wie etwa Dr. Ibrahim al-Qweit, der ins Rathaus der Hauptstadt Riad einzog:

"Es ist nur natürlich, dass wir allmählich Reformen, Wahlen, soziale und politische Beteiligung auf den Weg bringen“, sagt er: "Druck von außen sei aber für die demokratische Entwicklung Saudi Arabiens kontraproduktiv. Saudi Arabien ist ein islamisches Land und hat andere Werte als die meisten westlichen Länder. Wir haben unsere eigenen Interpretationen, wenn wir über Demokratie sprechen. Wir glauben nicht, dass Demokratie notwendigerweise eine westliche Ausgestaltung haben muss“.

Alle Macht dem König

Während in einer Demokratie westlicher Prägung alle Macht vom Volke ausgeht, gilt im Islam die Herrschaft eines weisen und gerechten Führers als ideale Regierungsform. Dieser wird von Repräsentanten des Volkes beraten und hält sich an die von Gott mittels Koran und dem Vorbild des Propheten Mohammed festgelegte Grundordnung. So auch in der absoluten Monarchie Saudi Arabien: Rechenschaftspflichtig glaubt das Herrscherhaus nur gegenüber Gott zu sein, nicht gegenüber einem wahlberechtigten Volk, das seine Regierenden bei Bedarf abwählen kann. Diese Meinung wird sich auch nach den Kommunalwahlen nicht ändern.

Viele traditionelle Saudis wie z. B. Mohammed al-Hamdhani stimmen den herrschenden Machtverhältnissen auch unwidersprochen zu: "Die wirkliche Definition von Demokratie ist die königliche Familie. Um Demokratie ausüben zu können, musst du Schritt für Schritt vorgehen. Die Königsfamilie ist nicht von außen beeinflusst, sie gibt den Menschen ihre Rechte“.

Politik der kleinen Schritte

Auch Sozialminister Ghazi al-Quseibi bestätigt die Macht der königlichen Familie: "Ich glaube nicht, dass irgendeine Gesellschaft sein ureigenstes Wesen ändern möchte. Reformen zielen nicht darauf ab, das Wesen der Gesellschaft zu ändern. Das ureigenste Wesen der saudischen Gesellschaft ist die Scharia, das islamische Recht, die Monarchie und die Respektierung der Traditionen. Das alles wird nicht durch Reformen geändert, sie werden modifiziert, aber nicht geändert“

In Saudi Arabien gilt das Prinzip der Übereinstimmung. Das macht Reformen naturgemäß ziemlich langsam: "Wir müssen auf eine breite Übereinstimung warten, bevor Reformen umgesetzt werden können. Das war schon früher so, etwa beim Unterricht für Mädchen, oder bei der Benutzung von Fernsehgeräten. All das bedurfte einer breiten Zustimmung, und das wird auch auf jede künftige Reform zutreffen“.

Reform-Widerstand wächst

Dieser Politik widersprechen liberale und radikale Reformer wie beispielsweise der emeritierte Sozialwissenschaftler Turki al-Hamad entschieden:

"Wir brauchen Reformen. Wir brauchen ein repräsentatives politisches System und eine Zivilgesellschaft, um jedermann die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern. Wir brauchen wirtschaftliche Reformen, um Jobs für die Arbeitslosen zu schaffen. Vor allem brauchen wir kulturelle Reformen durch unsere Schulen. Wir sollten in unseren Schulen das Konzept der Toleranz lehren, das Konzept des Nichthassens Anderer, nur weil sie 'die Anderen' sind".

Die Wurzeln des Terrorismus

Tatsache scheint jedenfalls zu sein, dass nicht vom Virus westlicher Demokratiebestrebungen angesteckte Liberale gegenwärtig eine ernste Gefahr für die Stabilität Saudi Arabiens sind, sondern die religiös verbrämten Extremisten. Eben jener Geist der Intoleranz, des Nichtakzeptierens Anderer, ist nach Meinung Turki al-Hamads der Boden für Extremismus und Terrorismus:

"Es ist der von der wahabitischen Geistlichkeit in Saudi Arabien vertretene Anspruch, der reinen Lehre zu folgen, die eigentliche Wahrheit zu kennen. Wer nicht dieser einen Lehre folgt, gilt als Abweichler, der bekämpft werden muss. Das kann mit dem Wort, mit der Feder, oder mit der Waffe geschehen. Der gebürtige Saudi Osama bin Laden ist in diesem geistigen Umfeld, in dieser Atmosphäre der Intoleranz und der religiös begründeten Unduldsamkeit aufgewachsen“.

Terrorbekämpfung allein genügt nicht

Bislang setzt die saudische Führung vor allem auf die Sicherheitskräfte, um gegen den Terrorismus vorzugehen. Binnen Jahresfrist haben saudische Sicherheitskräfte drei mutmaßliche Al-Qa'ida-Führer erschossen. Aber wann immer der saudischen Terror-Hydra ein Haupt abgeschlagen wurde, ist ein neues nachgewachsen.

Die in London lebende saudische Sozialwissenschaftlerin Mai Yamani meint dazu, Saudi Arabien sei eine Stammesgesellschaft. Die Verbundenheit zum Stamm, zum Clan oder zur Familie wiege nach wie vor schwerer als die Loyalität zum Herrscherhaus. Fänden sich Stammes- oder gar Familienangehörige auf beiden Konfliktseiten, neigten Sicherheitskräfte eher dazu, vermeintlichen Extremisten mit Nachsicht zu begegnen oder gar zu helfen.

Durch die Terrorbekämpfung allein würden laut Turki al-Hamad jedenfalls lediglich die Symptome, nicht aber die Krankheit selbst bekämpft: "Die Herrschenden in Saudi Arabien scheinen nicht wirklich verstehen zu wollen, dass die Zuflüsse gestoppt werden müssen, wenn der Terrorsumpf dauerhaft trocken gelegt werden soll".

Lösungsansätze

Reformer wie Turki al-Hamad wollen das geistige Umfeld verändern, sie wollen an der Wurzel beginnen, bei der Formung und Erziehung junger Menschen. Konkret heißt das, die Lehrpläne an Schulen und Universitäten müssen geändert, die Lehrinhalte müssen viel stärker auf die Bedürfnisse der modernen Welt ausgerichtet werden.

Leute wie etwa der Shura-Abgeordnete Abdurrahman Zamil halten das aber für eine überflüssige Geste gegenüber den als durchtrieben angesehenen Demokratiebestrebungen der USA im Nahen Osten, die letztlich nur auf die totale Kontrolle der gesamten Region unter der Knute Washingtons abzielten: "Unsere Lehre, unser Prophet und unsere Gelehrten hier erzählen uns, niemals gegen deinen König oder deine Herren zu revoltieren und sie niemals öffentlich zu kritisieren. Das ist gegen unseren Glauben, weil es Probleme schafft. Wenn du ein Problem hast, dann gehe hin und kritisiere ihn vertraulich".

Reformen unumgänglich

Diese Verfahrenweise mag vor 50 Jahren gut funktioniert haben. Damals hatte Saudi Arabien etwa 3,5 Millionen Einwohner. Mittlerweile sind es 23 Millionen, und unter den jungen Saudis gibt es eine rapide wachsende Arbeitslosigkeit von mancherorts bis zu 50 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in zwei Jahrzehnten um zwei Drittel gesunken und die religiös motivierte Unduldsamkeit junger Männer nimmt zu. Für Turki al-Hamd gibt es nur einen Ausweg:

"Reform ist ein Muss für alles. Du kannst nicht dein ganzes Leben ein Kind bleiben. Länder, Staaten, politische Systeme sind auch so. Auch wenn du ein System hast, das gut ist, muss es reformiert werden, damit es überleben kann. Deshalb brauchen wir Reformen“.

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Links
Wikipedia - Saudi Arabien
Qantara.de - Artikel von Mai Yamani