Erinnerungen von Norbert Kraus

1945 - Der Garten

Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".

Mit unserem Garten haben wir jetzt eine rechte Freude. Alles grünt und gedeiht und nichts erinnert an Krieg und Notzeit. Für den Sommer erwarten wir uns durch die eigene Obst- und Gemüseernte eine leichte Besserung der Ernährungslage. (...)

Jetzt gibt es sogar schon stundenweise Gas, aber jeweils nur für kurze Zeit und der Druck ist viel zu schwach. So bleibt vorerst der Hausfreund das wichtigste Kochgerät. Allerdings ist es schon schwierig, Holz zu beschaffen. Die Bombenruinen sind abgesucht bis auf den letzten Span. So werden den einzelnen Wiener Wohnbezirken Waldstücke zum Klauben von Fallholz zugewiesen. Wir gehören nach Sievering. Im dortigen Försterhaus bekommen wir entsprechende Bescheinungen ausgestellt. Zum ersten Mal nach langer Zeit fahre ich wieder mit der Straßenbahn. Sie ist voll Holzklaubern. Wir sind zu dritt: meine Schwester Irmi und unsere Cousine Susi, die Tochter von Onkel Georg. Als Proviant haben wir jeder ein Stück Brot, zusammen ein Halbliterflascherl von unserem Beutewein und - welch seltener Genuss - für jeden ein hartes Ei. Irmi hat diese Kostbarkeit durch ihre Eisenbahner-Beziehungen erworben. Alle meine Gedanken kreisen um dieses Ei. Wann und wo werden wir es essen? Nachdem unsere Keks-Notverpflegung aufgebraucht war, lebten wir wochenlang nur von den Graupen und der Hirse aus dem Franz-Josefs-Bahnhof. Zum Frühstück gibt es schwarzen Ersatzkaffee, gesüßt mit Saccharin, das zu horrenden Preisen im Schleich gehandelt wird. Seit ein paar Tagen erfolgt die lautstark angekündigte Ernährungshilfe der Roten Armee. Aber alles, was wir bekommen, sind getrocknete Erbsen, die von winzigen schwarzen Käfern bewohnt sind. Das hart gekochte Ei erscheint mir heute als freundlicher Gruß einer fernen friedlichen Zeit. Wenn wir auf der Straße Leute überholen, wenn uns welche entgegenkommen, denke ich jedes Mal: Hei, ich bin viel reicher als ihr. Ich habe im Rucksack ein hartes Ei!

Der Wald unterhalb der Höhenstraße ist wie ausgekehrt. Ich glaube, da gibt es auch nicht ein zündholzdickes Ästchen. Oben, beim "Grüßdiagottwirt“, wo man aus dem Wald heraustritt, sieht man wieder Spuren der Kämpfe: Links an der Höhenstraße steht ein verlassener Skoda-Straßenkampfwagen, so ein eiförmiger von der ehemaligen österreichischen Polizei. (...)

Endlich, endlich machen wir eine Esspause. In normalen Zeiten können die erlesensten Delikatessen nicht annähernd so munden, wie uns heute das harte Ei schmeckt. Einmal waren wir bei Ing. Bollhofer eingeladen - die ganze Familie. Irmi und ich rekapitulierten das damalige Gastmahl: selbst echten russischen Kaviar hat es damals gegeben - während wir genüsslich an unserem Ei knabbern. Davon in Festesstimmung versetzt, beginnen wir von schöneren Zeiten zu schwärmen. (...)

Unsere Abfälle müssen wir noch immer auf den Gürtel leeren. Als ich wieder einmal mit dem Mistkübel unterwegs bin, begegne ich dort einer Kolonne zwangsarbeitender Nazi. Sie schieben zweirädrige Straßenkehrerkarren. Gleich am Anfang hat man ihnen manchmal mit weißer Farbe Hakenkreuze auf den Rücken gemalt. Das ist jetzt vorbei. Alle haben eine private Arbeitskluft an, eine schäbiger als die andere. An den Gesichtern kann man die einzelnen Typen erkennen: Die Fanatiker, jetzt noch stolz erhobenen Hauptes, die Schaufel stramm geschultert, schauen fast herausfordernd in die Gegend: "Da, seht her, wir treten für unsere Überzeugung ein!“ Die Mitläufer und ehemaligen Gschaftlhuber machen wehleidige Gesichter und lassen die Köpfe hängen, als wollten sie sagen: "Wie kommen wir dazu? Wir haben doch keinem Menschen etwas gemacht.“ Dazwischen einige weltfremde Gelehrtenköpfe. Sie haben ihre Umwelt vergessen und unterhalten sich über Sanskrit. Mitten in der Schar entdecke ich meinen Mathematikprofessor. Der hat uns einst gehunzt! Zu meinen Schularbeiten schrieb er manchmal: "unterm Hund“. Und zum Leo vermerkte er: "Da keine schlechtere Note vorhanden: 6!“ Sein Spitzname war Schnapsstoppel, weil er oft eine Alkoholfahne hatte. Er machte einen vergnügten Eindruck: "Servus, hast eine Zigarette für mich?“ Ich kann leider nicht dienen. "Wir haben getauscht, die Straßenkehrer und wir. Wir können das Straßenkehren schon ganz gut. Hoffentlich kommen die Straßenkehrer mit dem Mathematikunterricht auch so gut zurecht.“ Er lacht, dass meine seine braunen Raucherzähne sieht. Alkoholfahne hat er heute keine. (...)

Ein wunderschönen Frühling ist das heuer. Im Garten kann man den Paradeisern direkt beim Wachsen zuschauen und die Ribisel sind auch bald reif. (...) Bald darauf hören wir gerüchteweise, die Schrebergärten der Nazi würden enteignet. Es bleibt nicht beim Gerücht. Vater bekommt eine Zuschrift vom Kleingartenverein, in der er zur Übergabe aufgefordert wird. Noch am gleichen Tag erscheint ein Herr Oberleitner mit seinem erwachsenen Sohn und einem Polizisten: "Sind Sie der Herr Kraus?“ - "Ja“ - "Ich krieg die Schlüsseln!“ - "Was für Schlüsseln?“ - "Ja, haben Sie denn net den Brief kriegt? Die Gartenschlüsseln natürlich.“ Vater wird blass. Aber er ist erstaunlich gefasst. Ich hätte das nicht von ihm gedacht. "In dem Brief steht nur, dass der Garten zu übergeben ist. Es steht weder wann noch wem.“ - "Na mir natürlich! Sehn ’S net, wir haben einen Polizisten mit!“ Der Polizist wiegt sich von einem der gegrätschten Beine auf das andere und steckt die Daumen hinter seinen Überschwung. Es hat den Anschein, als ob ihm diese "Amtshandlung“ eher peinlich wäre. "Wenn Sie nichts Schriftliches haben, kann ich Ihnen auch die Schlüssel nicht übergeben.“ Herr Oberleitner dreht sich nach seinem Sohn und dem Polizisten um. Der zuckt nur mit den Schultern. "Na was, den Garten krieg ich. Heut oder morgen ist ja auch wurscht.“ Die drei ziehen ab, Vater zittert am ganzen Leib.

Vater protestiert im Kleingartenverein. Er hat den Garten vor acht Jahren rechtmäßig von seinem Schwager erworben, der als einer der ersten Siedler das ehemalige Exerzierfeld am Schafberg überhaupt urbar gemacht hat. Onkel Franz hat den Garten aus Altersgründen übergeben. Vater hat inzwischen viel Geld und Arbeit hineingesteckt und vor allem ein modernes stabiles Gartenhäuschen errichtet. Er hat immer pünktlich seinen Vereinsbeitrag bezahlt. Und er hat - aber das wissen nur wir - sich eine ganze Bibliothek von Garten-Fachbüchern angeschafft und eine Kleingärtnerzeitung abonniert. Aber alle Proteste nützen nichts. Alle Nazi müssen raus! Im Vereinsausschuss, der das beschlossen hat, sitzt auch jener Rauchfangkehrermeister, der im Jahre 1938 einem jüdischen Kleingärtner einen Doppelschilling auf den Tisch gelegt und gesagt hat: "Ich hab dir den Garten abgekauft. Verschwind!“ Aber der Rauchfangkehrermeister war kein Parteimitglied, und der Jude ist in der Emigration gestorben, drum besitzt der Rauchfangkehrer noch heute den Garten. Am nächsten Sonntag erfolgt die protokollarisch genau festgehaltene Übergabe der Gärten, wobei noch sehr ungehalten festgestellt wird, dass wir vorher die reifen Ribisel abgeerntet und die Bettbrettel aus den eingebauten Schlafstellen entfernt hatten. Die Frühjahrsarbeit war getan. Familie Oberleitner braucht nur zu ernten. Wohl bekomm’s!

Vater spricht nie mehr davon. Aber Mutter beteuert immer wieder, dass sie den Verlust des Gartens nicht überwunden hat: "So ein Unrecht. Nein, so ein Unrecht!“ Alle Hinweise darauf, dass Millionen Unschuldiger all ihr Hab und Gut und noch ihre Angehörigen verloren haben, wie etwa mein Schulkamerad Thomas, der Siebenbürger, und der Garten wohl nur als kleines Opfer dafür angesehen werden kann, dass die ganze Familie die Kriegszeit heil überstanden hat, dringen an taube Ohren: "Ja schon, aber unser schöner Garten! Wir haben doch keinem Menschen was getan. Nein, so ein Unrecht ...“

Norbert Kraus wurde 1928 in Wien geboren. Obwohl er noch kurz vor Kriegsende eingezogen wurde, blieb er von Kampfeinsätzen verschont. Sein Vater, bereits vor 1938 Mitglied der NSDAP, war Abteilungsleiter einer Brauerei. Die Familie lebte 1945 in Wien-Währing und besaß einen Kleingarten. Norbert Kraus verfasste 1995 ein umfangreiches autobiografisches Manuskript mit dem Titel "Protokoll einer Läuterung“. In ihm beschreibt er seine Erlebnisse zwischen Jänner und Dezember 1945.

Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.

Buch-Tipps
Irene Riegler, Heide Stockinger (Hg.), "Generationen erzählen.
Geschichten aus Wien und Linz 1945 bis 1955", Böhlau Verlag, ISBN 320577356

Peter Gutschner (Hg.), "Arbeiterkindheit in Stadt und Land", Böhlau Verlag, ISBN 3205989163

Links
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
2005.ORF.at