Ohrensessel, Diwan oder Bett?
Ein Platz zum Lesen
Damals war alles einfach. Karl May unter der Schulbank. Den "Grafen von Monte Christo" im Baumhaus, die "Nesthäkchens" in Mamas Kuschelfauteuil. Aber jetzt, heute, aktuell? In welchem Ambiente wirkt Romantisches, Satirisches, Sachliches am Besten?
8. April 2017, 21:58
Dass sie mich damals mit dem Karl May während der Geografiestunde erwischt haben, war natürlich peinlich. Mater S. war wütend. Und beleidigt. Wie ich ihr das nur antun könne, fragten ihre Augen. Ihre Sprechwerkzeuge hingegen schickten mich zur Mater Direktorin, dort solle ich mir diesen Schund abholen.
Und da ging das Donnerwetter erst richtig los. Nie hätte sie das von mir gedacht. Das wäre doch keine Lektüre für mich! Wie ich nur auf diese Idee gekommen wäre. Na ja, das hätte ich leicht beantworten können, wenn ich mich getraut hätte: Alles andere, was die Schulbibliothek für mich in petto hatte, kannte ich schon, und der "Schut" schien mir zum Geografiestoff durchaus zu passen - wir waren gerade bei Arabien.
Die Sühnearbeit nahm ich gerne auf mich: mithelfen, die englische Bibliothek auf Vordermann zu bringen. Das war klasse, dort stand eine bequeme Couch, und bevor man ein Buch zum Aussortier-Stapel legen konnte, musste man sich erst vom guten Inhalt und Zustand des Buches überzeugen, oder etwa nicht? Offenbar war ich zu oft und zu lange dort drin. Als ich nach den Osterferien meine Sühnetätigkeit wieder aufnehmen wollte, hieß es, Mater G. hätte den Rest schon erledigt.
Mamas Kuschelsessel
Na gut, so bequem war die Couch auch wieder nicht! Mamas Kuschelsessel war um Klassen besser: ein Schaukelstuhl, über den ein Lammfell gebreitet lag. Daneben stand ein kleines Tischchen für Naschzeug, Sandwichs, Himbeersaft und dem nächsten Buch. In diesem himmlischen Sitzgerät las ich mich nicht nur durch die "Nesthäkchens", sondern auch durch die Riesenschinken von Balzac bis Zola. Als ich Nietzsche und Sartre und Grass auf meiner Liste hatte, saß ich mit Füßen außen auf meiner Fensterbank im ersten Stock, vom Duft meiner Kletterrose umgeben, die mittlerweile bequem vom meinem Platz aus geplündert werden konnte.
Damals war's einfach. Die Devise hieß: Lies das, was du möchtest, dort wo du bist. Heute ist alles anders. Ich habe mir eine ganze Reihe Leseplätze "gebaut", im Grunde genommen ist unsere Wohnung eine Ansammlung von Leseplätzen mit Kochnische und "Servizi". Natürlich konsumiere ich die meisten Bücher an meinem Schreibtisch, aber das ist oft eher unbequem. Rückenschmerzen, ach! Wenn ich mich in die Hängematte verziehe - ein Traumleseplatz, vor allem, wenn der Pastis in Reichweite steht und die Katze auf meinem Bauch schnurrt -, dann macht sich schnell ein gewisses Freizeit-Feeling breit, das leider immer von seinem lästigen Kollegen begleitet wird, dem schlechten Gewissen. Daher ist bis auf Weiteres die Hängematte abgebaut. Freizeitmäßig lese ich jetzt im Garten unterm Sonnenschirm oder im Bett vor dem Einschlafen.
Mit weichen Polstern und warmem Plaid
Für die ganz besonders "heavy" Lektüre, die "Bekenntnisse eines Economy Hit Man" über die weltweite Wirtschaftsmafia, oder die "Diamantenkinder", oder ähnliches, das starke Nerven erfordert, habe ich mir einen Kuschelstuhl eingerichtet: hoch, bequem, mit weichen Polstern und warmem Plaid, Fußschemel und einem freundlichen, ganz abgegrenzten Lichtkegel, ein Mittelding zwischen der Heimeligkeit bei Mama und der Sachlichkeit in der Unibibliothek - lange einer meiner Lieblingsleseplätze, besonders, wenn ich genau den Platz im Eck gekriegt habe (natürlich wurde er mir irgendwann "reserviert").
Aber keiner meiner Leseplätze kommt im Entferntesten an den bei meinen Großeltern heran: ein grüner Samtohrensessel im schmalen Wohnzimmer beim Fenster mit einer - im Nachhinein betrachtet - ziemlich hässlichen Stehlampe. Dort lesen war das Paradies! Vielleicht wegen der Ferien. Vielleicht weil sie mich Volksschülerin wie eine Erwachsene behandelten. Vielleicht, ach ich weiß es nicht! Fest steht: Dieses Gefühl, auf einem sicheren Schiff über den weiten Ozean der Fantasie zu reisen, schenkte mir bis jetzt keiner meiner Leseplätze, nicht einmal der geliebte Kuschelsessel von Mama, den es leider mittlerweile nicht mehr gibt. Aber ich gebe nicht auf: irgendwann...
Buch-Tipps
John Perkins, "Bekenntnisse eines Economic Hit Man. Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia", Riemann Verlag, ISBN 3570500667
Annette Rehrl, "Die Diamantenkinder. Zwischen Sklaverei, Gewalt und Hoffnung", Pattloch Verlag, ISBN 3629021018