Dimitré Dinev schöpft aus seinem Erzählfundus

Ein Licht über dem Kopf

Dimitré Dinev schöpft aus einem Erzähl-Fundus, von dem andere Autoren nur träumen können. Denn Bulgarien, in dem er zur Zeit des Kommunismus herangewachsen ist, war mehr aus Not denn aus Tugend ein Land der Geschichtenerzähler.

Dinev, der im Revoluzzerjahr 1968 in Plodiv geboren wurde, hat seine Heimat 1990 verlassen, weil bei den ersten freien Wahlen erst recht wieder die Kommunisten an die Macht gewählt wurden. Damals, mit gerade 22 Jahren, wollte er nichts wie weg. Im tiefsten Winter schaffte er es gemeinsam mit einem Freund über die österreichische Grenze, um im ersten gemütlichen Wirtshaus, das auf dem Weg lag, an die Gendarmerie verraten zu werden. Aber die Beamten waren damals noch nicht richtig geschult. Der Personalausweis in kyrillischer Schrift lässt die Behauptung, ein Flüchtling des Jugoslawienkriegs zu sein, glaubhaft erscheinen. Nächste Station: das Flüchtlingslager Traiskirchen.

Hier lernt er den Hunger kennen, aber auch die Geschichten anderer Immigranten. Die Neugier ist groß, der Erzählstoff wächst, die Geschichten aus der alten Heimat werden mit den neuen Erfahrungen verknüpft. Nicht simpel autobiografisch, sondern mit gestalterischer Lust und Sinn für die aberwitzigen Wende- und Wechselfälle des Lebens. Schreiben erscheint als produktives Wunder, das selbst dem Autor ein Geheimnis bleibt.

Immigrantenstorys ohne großes Lamento

Beiläufig und mit einer Komik, die bis in den Mikrokosmos der Sätze reicht, kommen Dinevs Geschichten daher: Immigrantenstorys ohne großes Lamento und mit metaphysischem Drive, wie Klaus Kastberger formuliert. "Wechselbäder " heißt die erste Erzählung, in der der Autor den ganz normalen Opportunismus in Wendezeiten benennt.

Die Kommunisten hatten endlich die Macht verloren, und eine solche Gelegenheit wollte niemand verpassen, nicht einmal die Kommunisten selbst.

Politische Umstürze und ihre unvermeidlichen Auswirkungen aufs so genannte Privatleben: Zahllose Frauen verlassen ihre Männer, weil nichts mehr ist wie früher, auch die Liebe nicht. In der übrigens ursprünglich für Österreich 1 geschriebenen Geschichte "lass uns Radio hören", wird das laufende Radioprogramm zum ständigen Begleiter des Liebeslebens eines Paares, denn die Wände in den kommunistischen Plattenbauten sind dünn.

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Der Witz in der Tragik

In der Regel sind es aber die ökonomischen Nöte oder gleich der Tod, der Paare trennt, auch und vor allem, wenn sie ihr Glück im Westen versuchen. Hier ist die Arbeit schwer, das Leben kalt, gesanglos und lebensgefährlich. Für Nikodim Stawre, den lustigsten Arbeiter am Bau, endet es sehr plötzlich, als er kurz den Helm abnimmt, um sich am Kopf zu kratzen, und von einem Kübel Mörtel getroffen wird.

Viele Geschichten sind kurz und witzig, in anderen weht der geduldige Atem des Romanciers. In der Erzählung mit dem harmlosen Titel "Die Handtasche" zum Beispiel, in der das Titel gebende, aus echter Menschenhaut gefertigte Stück und seine Wirkung auf die jeweiligen Besitzer 70 Jahre lang zurückverfolgt wird.

Oder in dem großartigen Text "Von Haien und Menschen", in dem ein betrunkener Obdachloser die traurige Tatsache, dass ihm eine Ratte im Wiener Stadtpark das Ohr weggefressen hat, grandios uminterpretiert. Wie soll hier nicht verraten werden.

Weiterleben der Erzähltradition

Dinev ist dort am besten, wo er nicht auf kürzestem Weg auf die Pointe zusteuert, sondern den verschlungenen Wegen seiner Figuren nachgeht und ihre oft tragikomischen Lebensumstände in aller Sorgfalt ausleuchtet. In diesen Geschichten lebt die mündliche Erzähltradition weiter, die man auch beim Lesen mithört.

Buch-Tipp
Dimitré Dinev, "Ein Licht über dem Kopf", Deuticke, ISBN 3552060006