Erinnerungen von Elfriede Strachota

1945 - Die Brombeermarmelade

Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".

Kaum dass ich von Vorarlberg zurückgekommen war, schickte mich meine Mutter schon wieder weg. Diesmal wurde ich in die Schweiz verschickt. Wieder fuhr ein großer Sonderzug, voll beladen mit unterernährten Kindern, in den Westen. Ich kann mich noch gut an die lange Fahrzeit erinnern und dass es während der Fahrt so eingerichtet war, dass alle Kinder im Liegen schlafen konnten. Das geschah, indem je zwei Kinder in das Gepäcksnetz hinaufkraxelten, je zwei Kinder konnten auf den Sitzen schlafen, und dann wurden auf dem Fußboden noch Decken ausgebreitet, da konnten sich nochmals Kinder zum Schlafen hinlegen. Ich habe im Gepäcksnetz geschlafen und fand das sehr lustig.

Als wir nach langer Fahrt in Buchs, einem Grenzort zwischen der Schweiz und Österreich ankamen, mussten alle Kinder aus dem Zug. Buben und Mädchen wurden getrennt, und wir mussten uns der Kleidung entledigen. Danach wurden wir unter eine Dusche gestellt und von Kopf bis Fuß gewaschen, auch die Haare. Außerdem wurden die Haare daraufhin untersucht, ob nicht jemand Läuse hatte. Unsere Kleidung wurde, während wir uns dieser Reinigung unterziehen mussten, desinfiziert. Danach wurden wir in ein anderes Zimmer geschleust, wo wir in nacktem Zustand von allen Seiten von verschiedenen Ärzten und Ärztinnen abgehorcht wurden. Danach wurden wir noch gewogen. Die Mädchen, die Läuse hatten, wurden in einen anderen Raum gebracht. Als wir diese Prozedur hinter uns hatten, bekamen wir unsere stinkende, aber sicherlich vom Ungeziefer befreite Kleidung wieder. Die überaus reinlichen Schweizer dürften große Angst davor gehabt haben, dass sie sich mit dem Einzug der verwahrlosten, unterernährten Kinder, Flöhe und Läuse ins Land holen würden.

Dann wurden wir geföhnt. Es war das erste Mal, dass ich so einen Apparat zu Gesicht bekam. Die Mäderln, die Zöpfe hatten, bekamen an jedes Zopferl ein wunderschönes Mascherl gebunden. Obwohl meine Haare noch sehr kurz waren, fasste eine Frau ein Büschel meiner Haare am Vorderkopf zusammen und verpasste auch mir eine wunderschöne, große Haarmasche. Ich war ganz selig. Danach wurden wir in einen großen Saal geführt, der angefüllt war, mit aneinander gereihten Tischen, an denen wir Platz nehmen durften. Hier bekamen wir nun ein sehr gutes Essen und danach, das war für mich wieder das schönste, ein Häferl Kakao.

Viele Jahre später wurde dann einmal im Fernsehen gezeigt, wie die Schweizer im Jahre 1947 die österreichischen Kinder in die Schweiz geholt hatten, und als ich diesen Film sah, konnte ich mich als zehnjähriges Kind mit großer, roter Masche am Haarschopf erkennen.

Als wir gegessen hatten, wurden wir wieder zu einem Zug gebracht, und nun setzten wir die Fahrt nach Zürich fort; allerdings blieben einige Kinder in Buchs, nämlich die, die Läuse hatten. Bevor wir in Zürich ankamen, wurden uns von den Betreuerinnen noch Tafeln um den Hals gehängt, wie wir hießen, wo wir in Wien wohnten und zu welcher Gastfamilie wir nun kommen würden. Ich kannte das schon von meiner Reise nach Vorarlberg.

Als wir in Zürich aus dem Zug stiegen, ermahnte man uns, dass wir neben unserem Gepäck, das man neben uns auf den Boden stellte, so lange auf demselben Platz stehen bleiben sollen, bis man von den Gastfamilien abgeholt würde.

Ich erinnere mich noch ganz genau an meine Ankunft auf dem Bahnhof in Zürich. Als ich die vielen Lichter sah - bei uns in Wien gab es ja zu dieser Zeit noch keine Straßenbeleuchtung - meinte ich, ich müsse im Himmel sein. So was Schönes hatte ich nie zuvor gesehen. Der Bahnhof war taghell beleuchtet, und was mich am meisten faszinierte, war die sich von selbst schreibende Neonreklame. Was wusste ich schon von Neonlicht. Auch hatte ich keine Ahnung, was Reklame war. Diese ganzen fremden Wörter sagten mir nichts, aber mich faszinierte das Lichtspiel, das sich mir bot. Und wie ich so dastand, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, kamen zwei Herren, die sich mir als Onkel Oskar und Onkel Charly vorstellten, meinen kleinen Koffer packten und sagten: "Du bist also unsere Elfi, auf die wir schon so lange gewartet haben."

Ein Onkel nahm mich bei der Hand, und wir verließen den Bahnhof. Draußen setzten wir uns in ein Taxi und fuhren in die Wuhrstraße, wo ich nun einige Zeit leben sollte. Ich brachte kein einziges Wort heraus, denn was ich bei dieser Fahrt zu sehen bekam, verschlug mir den Atem. Ich dachte immer wieder, so muss es im Himmel aussehen. Die Straßen waren hell beleuchtet. Die Geschäfte hatten große Auslagen mit richtigen Glasfenstern. Viele, schöne Autos fuhren an uns vorbei, und überall sah ich immer wieder die sich von selbst schreibende Reklame für irgendwelche Artikel, die ich nicht kannte, und nirgends zerbombte Häuser.

Als wir in der Wuhrstraße angekommen waren, stellte sich eine ältere Dame als Tante Ida bei mir vor. Sie war die Mutter von Onkel Charly und Onkel Ossi. Dann wurde ich in ein Zimmer begleitet, das nun bis auf weiteres meines werden sollte. Danach schickte man mich ins Badezimmer, und Onkel Ossi war auch schon dabei, mir das Wasser einzulassen. Obwohl ich sagte, dass ich in Buchs habe duschen müssen, steckte man mich trotzdem in die Wanne. Aber es hat mir sehr gut gefallen, denn ich bekam das erste Mal in meinem Leben ein Schaumbad, das mir unerhörtes Wohlbehagen verursachte. Danach wurde zu Abend gegessen, und da ich sehr müde war, aber auch, weil die Tür meines Zimmers nur angelehnt war und ich vom Nebenzimmer alle reden hörte, bin ich ohne Angst eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wurde ich von Tante Ida gefragt, ob ich ein Butterbrot mit Marmelade oder ein Wurstbrot zum Frühstück haben möchte. Ich entschied mich sofort für das Butterbrot, denn ich ahnte nicht, dass ich mir ab sofort auf das Butterbrot noch Marmelade schmieren durfte. Fürs Erste entschied ich mich daher für nur Butterbrot, da es mir richtig grauste, wenn ich an die Brote dachte, die ich zu Hause bekam ... Ein ausgetrocknetes Brot, auf dem sich etwas bröcklige, harte, nicht sehr süße Marmelade schwer draufstreichen ließ.

Wie staunte ich, als ich sah, dass sich die Onkel auf das Butterbrot irgendwelche Früchte draufstrichen. Ich fragte, was das sei. Da sagte man mir, das wäre Brombeermarmelade und ich solle sie nur versuchen, sie schmecke wunderbar. Ich versuchte und ich versank in einen Lustgenuss. Ich haute in mich hinein, was das Zeug hielt und meiner Gastfamilie gefiel es, dass es mir so gut schmeckte.

Diese Familie kleidete mich auch neu ein. Gleich am nächsten Tag gingen alle drei mit mir einkaufen. Ich bekam neue Unterwäsche, Strümpfe, Pullover, Kleider und Schuhe, und von allem gleich zwei Stück beziehungsweise zwei Paar. Das aber war nur der Anfang, sie meinten, damit ich zuerst einmal das Allernötigste haben solle. ...

Elfriede Strachota, geboren 1937, war gerade von einem vierwöchigen Erholungsaufenthalt bei einer Bauernfamilie im Bregenzer Wald nach Wien zurückgekehrt, als sie im Sommer 1947 von ihrer Mutter neuerlich auf die Reise geschickt wurde. Ihre Mutter war in der Nachkriegszeit als Leiterin eines Kinderheims in Wien beschäftigt. Die folgenden Erinnerungen an die Reise und an den mehrmonatigen Aufenthalt bei einer Züricher Familie bilden einen kleinen Ausschnitt eines umfassenden Manuskripts mit Kindheits- und Jugenderinnerungen, die Elfriede Strachota in den 1990er Jahren zu Papier gebracht hat.

Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.

Buch-Tipp
Dieser Textausschnitte erscheint im Herbst 2005 als Band 57 der Buchreihe "Damit es nicht verlorengeht ...“, Böhlau Verlag

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Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
2005.ORF.at