Erinnerungen von Fritz Roubicek
1945 - Der Empfang
Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".
8. April 2017, 21:58
Wir trudelten also in Wien ein, mit einem kleinen Binkerl am Arm, das eine Zahnbürste, zwei paar Socken und eine Unterhose in sich barg. Unsere kleine Gruppe bestand aus fünf Personen. Außer meiner Wenigkeit gehörten dazu der Zahnarzt Dr. Gerhard Arnstein, die beiden Brüder "Lutschi und Kurtl Weinber und eine vierte Person, an die ich mich heute nicht mehr erinnere. Wir standen am Westbahnhof, vielmehr auf dem, was von ihm übrig geblieben war, und hatten das Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein, ungefähr so, wie es in dem Wienerlied beschrieben wird: "Jedem Wiener lacht das Auge, pocht das Herz, die Wange glüht, wenn nach jahrelanger Trennung er St. Stephan wieder sieht. Nun, St. Stephan sahen wir nicht, aber dafür die Mariahilfer Straße und eine Straßenbahnlinie, die zu unserem Erstaunen fuhr, und auch die Stadtbahn verkehrte bis Friedensbrücke.
Als die Brüder Weinber - Brigittenauer von Geburt und aus Neigung - das hörten, bewogen sie uns, sofort in die Brigittenau zu fahren. Dort würden sie es bestimmt leichter haben, für uns Quartier aufzutreiben. Lutschi, als ehemaliger Taxichauffeur auch mit Typen aus der Unterwelt bekannt, versprach sich davon auch einiges.
Wir fuhren also los und wurden im Café Brioni, gegenüber der Franz-Josephs-Bahn, deponiert. Dort wussten wir nicht, was wir bestellen sollten. Die Entscheidung wurde uns vom Kellner leicht gemacht. Er teilte uns mit, es gäbe momentan nur zwei verschiedene Konsumationen: Kaffee und Limonade. Mit unverhohlenem Misstrauen fragten wir ihn, was der Unterschied sei. Er antwortete: "Der Kaffee schmeckt nach Petroleum und die Limonade nach Essig. Wir entschieden uns also für Essig und mussten feststellen, dass die Limonade genauso grauslich schmeckte, wie sie aussah. Inzwischen waren die Brüder Weinber, die auf Kundfahrt ausgezogen waren, zurückgekommen und teilten uns mit, für sie beide wäre eine Unterkunft vorhanden, für uns übrige aber sehe es trist aus.
Da erinnerten wir uns daran, dass uns Gustl Wegerer, der mit dem ersten Transport nach Wien gefahren und dann wieder für einige Zeit nach Buchenwald zurückgekehrt war, um uns über die Zustände in Wien zu informieren, gesagt hatte, wir sollten uns in der Wasagasse, im ehemaligen Gymnasium, bei der KPÖ melden, man würde uns weiterhelfen. Wegerer war prominenter Kommunist und stand auf gutem Fuß mit dem damaligen russischen Stadtkommandanten. Warum nicht, sagten wir uns und marschierten stramm in die Wasagasse.
Welche Enttäuschung! Dort nahm uns ein Mann namens Wipplinger in Empfang, und eine seiner ersten Fragen war: "Seids ös Juden? Man beachte übrigens die gewählte Diktion. Wir bejahten in aller Unschuld und waren leicht verwundert. Wenn er uns gefragt hätte, ob wir Kommunisten seien, wäre das für uns vielleicht noch verständlich gewesen, aber diese Frage war uns schlicht unverständlich. Wie gesagt, wir bejahten und bekamen dann die verblüffende Antwort: "Dann ghörts ihr nicht da her, gehts zum polnischen Roten Kreuz am Rennweg! Draußen waren wir.
Wir versuchten uns Verschiedenes auszureden. Vielleicht nahm sich wirklich das polnische Rote Kreuz heimkehrender KZ-ler an? Wir marschierten also zum Rennweg.
Dazu mussten wir die Innere Stadt durchqueren, und mit unseren Holzschuhen, Marke "Häftling, war das ziemlich anstrengend. Ich hatte übrigens in meinem Binkerl auch ein Paar Lederschuhe, zwar etwas ramponiert, aber doch halbwegs brauchbar. Die schonte ich aber, weil ich mir darüber im Klaren war, dass in den nächsten Monaten oder vielleicht Jahren an den Erwerb von Schuhen nicht zu denken war.
Beim polnischen Roten Kreuz die nächste Überraschung. Es wurde die Tür nur einen Spalt breit geöffnet, und ein ganz gebrochen Deutsch sprechender Mann bedeutete uns, wir sollten sofort verschwinden. Also, so hatten wir uns den Empfang in der Heimat bestimmt nicht vorgestellt. Ich kann mich daran erinnern, dass mir in Auschwitz ein Wiener, der sich Träumen hingab, eingeredet hatte, unsere Heimkehr würde sich folgendermaßen abspielen: "Weißt, Fritzl, wir werden mit der Bahn nur bis Floridsdorf fahren. Dort nehmen wir uns dann einen Fiaker, und mit dem fahren wir über die Floridsdorfer Brücke. Armer Teufel, er hat Auschwitz nicht überlebt und konnte daher nicht mehr konstatieren, dass unsere Heimkehr sich aber schon ganz anders abspielte.
Was tun? Da kam uns plötzlich eine Idee. Wir wussten zwar, dass die Hitlersche Vernichtungsmaschinerie es sich als Endziel gesetzt hatte, zumindest das europäische Judentum zu vernichten, weiters, dass es eine so genannte "Reichskristallnacht gegeben hatte, in der alle Synagogen in Brand gesteckt wurden, aber trotzdem hatte eine Handvoll Juden überlebt. Es musste doch zumindest in der Seitenstettengasse ein Rest des ältesten Wiener Tempels übrig geblieben sein.
Trotz ziemlich großer Müdigkeit machten wir uns neuerlich auf die Socken und standen dann in der Seitenstettengasse vor dem Tempel. Nun, abgebrannt war er nicht. Wir probierten also das Tor zu öffnen, und siehe da, es ging auf. Wir lugten hinein. Es schien alles in Ordnung zu sein, nur keine Menschenseele ließ sich blicken. Wir probierten es also mit lauten Rufen, bis aus der Höhe des zweiten Stockes des vor der Synagoge gelegenen Hauses, eine Stimme ertönte. (...) Als wir fragten, wo denn die Kultusgemeinde geblieben war, bekamen wir die Auskunft. Die amtiert jetzt am Schottenring. Wenn Sie etwas brauchen, gehen Sie dorthin! Na, wenigstens etwas.
Wir suchten also diese Adresse auf, und dort erlebten wir die erste angenehme Überraschung. Die Kultusgemeinde war tatsächlich in voller Tätigkeit, wir wurden freundlichst begrüßt, man gab uns Legitimationen, die in Englisch, Französisch und Russisch Auskunft gaben, wer wir seien. (Das war, wie wir damals noch nicht wussten, wichtig, denn wer auf der Straße ohne Papiere von einer Militärstreife angetroffen wurde, lief Gefahr, sofort hopp genommen zu werden.) Dann drückte man uns dreißig Mark in die Hand, denn die Schillingwährung war damals in weiten Kreisen noch unbekannt, und wir brauchten doch zumindest ein paar Netsch, um mit der Straßenbahn zu fahren, falls diese funktionierte.
Weiters bekamen wir eine Einweisung in ein Rückkehrerheim, das sich in der Unteren Augartenstraße in einer ehemaligen Volksschule befand. Natürlich war das Heim nicht luxuriös ausgestattet, wir schliefen im Turnsaal auf Feldbetten, immerhin aber waren diese sauber, und wir hatten sogar jeder einen Spind, obgleich wir nicht wussten, was wir dort hätten hineinhängen sollen. Jedenfalls waren wir viel Schlechteres gewöhnt und waren zufrieden. (...)
Den Nachmittag benützten wir dazu, uns zu erkundigen, was sich in Bezug auf Rückkehrer aus dem KZ in Wien tat. Von wem, weiß ich heute nicht mehr, jedenfalls wurden wir darauf aufmerksam gemacht, dass es in Wien eine Institution gäbe, die "Volkssolidarität hieß, sich aus den Vertretern aller drei in Wien zugelassenen politischen Parteien zusammensetze und die es sich zur Aufgabe gestellt hatte, die Rückkehrer zu betreuen, sie in Heimen unterzubringen und ihnen, weil ja die meisten unter uns bekleidungsmäßig in einem bejammernswerten Zustand waren, mit altem Gewand ein wenig zu helfen. Ich selbst war übrigens mit einer alten Hose und mit einer Wehrmachts-Uniformbluse bekleidet und hatte, um nicht als Wehrmachtsdeserteur zu gelten oder von den Alliierten hopp genommen zu werden, auf dem linken Ärmel einen rot-weiß-roten Stoffstreifen mit der Inschrift "Buchenwald aufgenäht.
Interessant ist, dass in Wien kein Mensch wusste, was Buchenwald war. Wir wurden von Volksdeutschen häufig angesprochen, ob wir vielleicht aus dem so genannten "Buchenland wären. So nannte man damals die Bukowina. Wenn wir ihnen erklärten, wer wir wirklich seien, blickten sie uns ängstlich an und verrollten sich sofort. Das schlechte Gewissen war ihnen auf die Stirne geschrieben. Aber das nur nebenbei.
Wir machten uns also auf den Weg zur "Volkssolidarität, deren Büros sich hinter dem Rathaus befanden, und hofften, dass sich der kühle Empfang nur als ein Irrtum herausstellen würde. Oh kindliche Einfalt! Der Erste, an den wir gerieten, war der Delegierte der KPÖ, ein widerlicher Kerl namens Kohl. Der musterte uns sehr von oben herab, und als er erfuhr, wer wir waren, sagte er indigniert: "Ihr gehörts nicht hierher, gehts zur Kultusgemeinde! Dann gab er, damit nur ja kein Missverständnis vorherrsche, seinem Adlatus namens Drucker, der angeblich ein Spanienkämpfer war, den Auftrag, uns nicht in die Kartei aufzunehmen. Wir aber glaubten uns in die Zeiten des "Dritten Reiches versetzt. (...)
Fritz Roubicek wurde 1913 in Wien geboren und wuchs in der Gegend des Brunnenmarkt im 16. Gemeindebezirk (Ottakring) auf. 1938 flüchtete er als Jude vor den Nationalsozialisten zunächst in die Schweiz, sodann nach Frankreich. Dort wurde er festgenommen und war von 1942 bis 1945 in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald inhaftiert. Nach der Befreiung kehrte er im Sommer 1945 nach einer langwierigen Fahrt und zahlreichen Zwischenstationen mit anderen ehemaligen KZ-Häftlingen nach Wien zurück.
Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet.
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Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen