Gespräche mit Walter Murch

Die Kunst des Filmschnitts

Die Geschichte, die ein Kinofilm zeigt, funktioniert nur dann, wenn das Timing und die Logik der Bilder stimmen. Beides liegt in der Verantwortung jener Person, die in der Regel nur Regisseur und Produzent kennen: dem Cutter.

Walter Murch ist einer der gefragtesten seines Faches, dennoch wird nicht vielen Kinobesuchern sein Name im Abspann von Filmen wie "Apocalypse Now", "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" oder "Der talentierte Mr. Ripley" aufgefallen sein. Dem kanadischen Schriftsteller Michael Ondaatje ist Murch während der Arbeit an der Verfilmung seines Romans "Der englische Patient" begegnet. Und es stellte sich heraus, dass die Arbeit des Cutters jener des Schriftstellers weitgehend gleicht: Beide sammeln Material an, ordnen, montieren, suchen nach einer Struktur, nach einer unverwechselbaren Sprache. Und beide sind während der Arbeit ziemlich lange ziemlich einsam. Bis ein Spielfilm geschnitten ist, kann schon ein Jahr vergehen, in dem in finsteren Räumen gesichtet und ausgewählt wird. Der Regisseur spielt dabei oft nur eine Nebenrolle. Hingegen:

Man muss sehr gut über die Schauspieler Bescheid wissen. Auf einer sehr schmalen Bandbreite weiß man manche Dinge besser als sie selbst und wahrscheinlich besser als irgendjemand sonst. Man sieht sie von vorn, von hinten, in vierundzwanzig oder in achtundvierzig Bildern pro Sekunde, immer und immer wieder. Man studiert sie so, wie ein Bildhauer ein Stück Marmor studiert, bevor er es bearbeitet.

Damit aus gutem Material auch ein guter Film wird

Michael Ondaatje hat Walter Murch nach der Fertigstellung des "Englischen Patienten" immer wieder getroffen, um sich mit ihm über die Kunst des Filmschnitts, aber eigentlich über Film und Kunst im Allgemeinen zu unterhalten. Das hätte auch die Privatangelegenheit zweier älterer Herren bleiben können, wäre daraus nicht eine kluge und unterhaltsame dialogische Abhandlung über die Bedingungen künstlerischer Produktion unter dem Diktat des Kapitals geworden.

Walter Murch war und ist ein introvertierter Tüftler, der im Hintergrund dafür sorgt, dass aus gutem Material auch ein guter Film wird. Und das funktioniert nur, wenn der Cutter mehr als jeder andere am Film Beteiligte alle Ebenen der Handlung, jedes Bilddetail und alle Facetten der Charaktere in sich aufnimmt, damit sich im Idealfall ein Bild aus dem anderen ergibt, eine Szene aus der anderen wächst. Der Betrachter soll gar nicht merken, dass ein Film "gemacht" ist:

Wenn man die Aufmerksamkeit des Publikums mit einem sich auf der Leinwand bewegenden Punkt vergleicht, dann ist es der Job des Cutters, den Punkt auf reizvolle Weise hin und her zu bewegen. Wenn sich der Punkt also von links nach rechts und dann in die rechte Ecke des Bilds bewegt und wenn es danach einen Schnitt gibt, dann sollte man sichergehen, dass es in der nächsten Einstellung etwas in der rechten Ecke gibt, was die Aufmerksamkeit fesselt.

Lust an der Analyse

Gute Filme lassen sich wunderbar sezieren, das hat schon Francois Truffaut am Beispiel Alfred Hitchcocks gezeigt. Schlechte Filme machen bloß ratlos. Das Schöne an Michael Ondaatjes Konversation mit Walter Murch ist diese Lust, sich ganz unakademisch durch die Filmgeschichte zu bewegen und die Faszination von Klassikern in der Detailanalyse festzumachen, und nicht, wie üblich, an den Darstellern oder an der Story. So ist dieses Buch eines über das Sehen geworden, über Kleinigkeiten wie Gesten, Blicke, Halbsätze und Zwischentöne, die die eigentlichen Träger von Geschichten sind, weil jede glaubwürdige Figur eine Summe aus Kleinigkeiten und Zwischentönen ist. Der Cutter ist derjenige, der diese Glaubwürdigkeit ins zweidimensionale Kunstprodukt Film hinein bringt.

Buch-Tipp
Michael Ondaatje, "Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch", übersetzt von Gerhard Midding, Hanser Verlag, ISBN 3446205888