Spannend, kurzweilig und anregend

Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie

Den wohl am besten fundierten Text zum Stifter-Jubiläumsjahr 2005 hat der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Leopold Federmair geliefert: Das Buch ist trotz großer Detailfreudigkeit und 325-Seiten-Umfang spannend, kurzweilig und anregend.

Leopold Federmair bringt die eigene Lebensgeschichte stark in seine Darstellung Stifters ein. Allerdings dient das Rekurrieren auf eigene Erfahrungen nie der Selbstdarstellung des Ich-Erzählers, sondern ausschließlich dem Versuch einer Erklärung des Phänomens Stifter. Federmair hatte dabei Heimvorteil: Der 1957 geborene Autor stammt aus Oberösterreich, besuchte - wie einst auch Stifter - das Gymnasium im Stift Kremsmünster und kennt die Landschaft, die Menschen, die Mentalität und die Denkweisen, die das Werk Stifters prägten, sehr genau.

Theorie und Wirklichkeit

Die Bigotterie sieht Federmair als zentrales Charakteristikum von Stifters Persönlichkeit. Diese Art der Heuchelei, die sich im scharfen Auseinanderklaffen zwischen theoretischem Anspruch und der Lebenswirklichkeit manifestiert, kommt im jenem krassen Gegensatz zwischen der idealisierten, nach sanftem Gesetz gestalteten Welt der Stifter-Texte und physischen wie psychischen Unkontrolliertheit und Grobschlächtigkeit des Dichters zum Ausdruck.

Stifters Romane und Novellen führen uns nicht an die Wurzel der Bigotterie, sondern sie zeigen ohne Absicht, wie die Bigotterie als heimischer Humus über Jahrhunderte hinweg die Charaktere geprägt hat.

Aus eigener Erfahrung

Federmair kann dazu aus eigener Erfahrung zahlreiche Beispiele beisteuern: von den eigenen, in der Jugend erfahrenen Konflikten zwischen vordergründiger Liberalisierung und traditioneller, fest in Denken und Handeln verwurzelter Körperfeindlichkeit, bis zur ans Unerträgliche grenzenden Duldsamkeit der ländlichen Bevölkerung, der Ausgrenzung alles Fremden, des Schweigens und Verdrängens.

Wenn ich heute zurückdenke an meine Kindheit, will mir Österreich, oder genauer: Westösterreich, dieser erzkatholische Raum, in dessen Mitte das von Stifter gepriesene Salzkammergut liegt, als Reich der Bigotterie erscheinen.

Bezug zur Gegenwart

Die Verhältnisse mögen sich seit damals geändert, die alten Glaubensdogmen an Bedeutung verloren haben, und doch ist es merkwürdig, mit welchem Eifer immer noch die Konflikte der katholischen Kirche einerseits vertuscht, andererseits von einer nicht nur kirchlichen Öffentlichkeit diskutiert werden.

Federmair versteht es, sehr einprägsame, schlüssige und bisweilen auch durchaus originelle Parallelen zwischen Stifters Leben und Werk und gegenwärtigen Erscheinungen aufzuzeigen. Etwa wenn er jene agrarreformerischen Ideen, die in Werken wie "Brigitta" oder im "Nachsommer" zu finden sind, in Bezug zu Ökotrends und zum Permakultur-Experiment des Agrar-Rebellen Sepp Holzer setzt. Oder wenn er die Erzählung "Abdias" auch als Text zum Irakkrieg liest, oder in "Witiko" sprachliche Analogien zur Pop- und Trashliteratur ortet und diese auch sachkundig dokumentiert. Damit macht Federmair nicht nur Lust, Stifter neu zu lesen, sondern öffnet gleichzeitig viele andere interessante Perspektiven.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipps
Leopold Federmair, "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie", Otto Müller Verlag, ISBN 3701310955

Arnold Stadler, "Mein Stifter", DuMont Verlag, ISBN 3832179097

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