Ein Roman über das Scheitern
Der Ursprung der Welt
Jorge Edwards' neues Buch ist ein Roman über das Scheitern, über das Älterwerden, das Sterben, verlorene Illusionen, politische, moralische wie erotische. Das alles vermengt mit ein bisschen Kriminalistik und zahlreichen literarischen Anspielungen.
8. April 2017, 21:58
Ein Bild von Gustave Courbet: Ein weiblicher, üppiger Körper ist schräg auf Laken gelagert. Dieses Bild war nicht nur für Jorge Edwards Impuls, seine in kriminalistische Struktur gehüllte Eifersuchtstragikomödie zu schreiben, sondern ist gleichzeitig Impuls für den Hauptdarsteller seines Romans, den chilenischen Arzt Patricio Illanes, seine detektivische und mehr und mehr paranoide Suche nach Beweisen für die Untreue seiner um viele Jahre jüngeren Frau zu beginnen.
Sein langjähriger Freund, auch ein Exilchilene, Felipe Diaz, ein gescheiterter Intellektuelle und Don Juan, übernimmt den Part des Gegenspielers und des Verführers und seines erwähnten reellen Vorbilds, das trotz bevorstehendem Libidoverlust von der Flasche nicht lassen kann und will.
Grundlegende Wandlung
Beide Figuren durchlaufen eine grundlegende Wandlung ihrer Persönlichkeit. Patricio, der vernünftige Arzt und Psychologe, ein Mann mit festen politischen Überzeugungen und moralischen Grundsätzen, verfällt seinen Phantasiegebilden, seinen seltsamen Bewohnern des Unbewussten, beginnt aber dadurch neu zu leben. Felipe, der lateinamerikanische Intellektuelle aus gutem Hause, erwacht durch seine letzte weibliche Eroberung. Er scheitert an der herausfordernd-verführerischen mexikanisch-japanisch Philosophin körperlich, emotionell und intellektuell, die sich aus seinem Alkoholismus und Erektionsproblemen nichts macht und vorschlägt, einfach in die Flasche zu schlüpfen.
Sei unbesorgt. Wenn du dich für die Flasche entschieden hast, ist das noch lange kein Grund mich abzuschieben. Ich werde in deine Flasche schlüpfen, während du dich in Whisky ertränkst, werde ich mich in aller Ruhe einrollen, ich werde mich in ein Knäuel, in einen Wurm verwandeln, wie die Würmer auf den Mescalpflanzen in meinem Land, und ich werde Romane, Erzählungen, Essays, Theaterstücke schreiben.
Jede Menge Zitate
Es ist ein Roman über das Scheitern, der sich mit dem Älterwerden, mit dem Sterben, mit verlorenen Illusionen, politischen, moralischen wie erotischen beschäftigt. Die darin nach sich selbst suchenden Figuren sind angesiedelt zwischen Helden der Weltliteratur: der Arzt Patricio als versuchter Maigret, Holmes oder Poirot, und der Intellektuelle Felipe als narzisstischer Schwerenöter, die Reinkarnation einer Gestalt aus Stendhals autobiografischen Werken. Sogar Kapitelüberschriften zitieren Sentenzen Senecas und Ovids und geben den einzelnen Episoden etwas Gleichnishaftes.
Die Erzählperspektive variiert mehrmals zwischen der Sicht des Arztes und eines auktorialen Erzählers und zuletzt Silvias, der Frau des Arztes. Dieses formale Verfahren spiegelt wiederum die sich für den Arzt langsam enthüllende Erkenntnis wider, dass nichts so ist, wie es scheint. Während seiner neurotischen Suche nach etwas, von dem er nicht sicher ist, dass er es finden will, verliert Patricio immer mehr den Blick für das Wesentliche, gerät immer mehr in die Abhängigkeit seiner Phantasien.
Fantasie ist alles
Courbet gestaltete die Perspektive seines Bildes so, dass sie den Blick des Betrachters zu einem einzigen Punkt zwingt, der offenkundig und unreflektiert genau das zeigen will, was ist, aber offensichtlich die Vorstellungskraft der Betrachter, des Arztes wie des Schriftstellers, umso mehr schürt. Die Vorstellungskraft, und ist sie auch noch so schmerzhaft wie bei Patricio, wird letztlich zum lebensrettenden Funken für den Arzt und für seine Beziehung.
Edwards selbst meint: "Da ich Schriftsteller bin, glaube ich daran, dass die Fantasie hilft, zu leben. In der Literatur und im Leben bringt die Fantasie Unerwartetes und Überraschendes. In der Liebe und in zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Fantasie alles. So vereinen sich hier die Fantasie als vitales Element und als kreatives Element."
Buch-Tipp
Jorge Edwards, "Der Ursprung der Welt", aus dem chilenischen Spanisch von Sabine Giersberg, Verlag Klaus Wagenbach, ISBN 3803131936