Grundfragen von Kognition und Kommunikation

Wolfskinder

"Wilde Menschen" bevölkern seit jeher Mythen und Märchen. Diese "Geschwister Kaspar Hausers", ihre geistigen Mängel und ihre Veränderungen nach der Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft stoßen uns auf die Grundfragen menschlicher Kommunikation.

Der Journalist und Schriftsteller P.J. Blumenthal hat des Themas "Wolfskinder" angenommen. In seinem Band "Kaspar Hausers Geschwister" untersucht er die Spuren, die verwilderte Kinder in der einschlägigen Literatur hinterlassen haben. Beginnend bei den ersten Berichten von Wolfkindern im Mittelalter bis zu Fällen der Isolierung und Aussetzung in unserer Gegenwart.

Unterart der Gattung homo sapiens?

Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der wilde Mensch, der homo ferus, zu einer Unterart der Gattung homo sapiens gemacht. Der Schwede Karl Linné beschrieb ihn in seinem Werk Sytema Naturae folgendermaßen: "Vierbeinig, stumm und behaart".

Sollte es möglich sein, dass gerade sie, die wilden Menschen, dazu beitragen können, die brennende Frage zu lösen: Werden wir als Menschen geboren, oder werden wir zu Menschen erzogen?

Unterschiedliche Ansichten

Johann Christian Daniel Schreber betrachtete mit Skepsis Linnés Anmerkungen. Für ihn war der wilde Mensch kein Fossil, das einen Blick in den ursprünglichen Zustand der Menschheit gewährt, sondern nur ein armer Tropf, der sich irgendwann verirrt hatte.

Ähnlich sah es der Göttinger Professor Johann Friedrich Blumenbach, "von blödsinnigen Buben sei für Psychologie oder Anthropologie keine belehrende Ausbeute zu erwarten."

In eine andere Kerbe stieß Johann Gottfried Herder. Am Beispiel zweier wilder Kinder zog er den Schluss: "Lauter Erweise, wie sehr sich die biegsame menschliche Natur, selbst da sie vom Menschen geboren und eine Zeitlang unter ihnen erzogen worden, in wenigen Jahren zu der niedrigsten Tierart gewöhnen konnte, unter die sie ein unglücklicher Zufall setzte." Laut Herder ist dem Menschen nichts angeboren. Er kommt in die Welt als ein Mensch ohne Eigenschaften.

Zwei Standpunkte

Der Diskurs zu dieser Frage, in der wenige gesicherte Fakten vorhanden sind, dafür viel Raum für Spekulationen bleibt, setzte sich fort und lässt sich auf zwei Hauptstandpunkte reduzieren.

Der eine Standpunkt: Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch. Er muss zum Menschen erzogen werden. Die Verblödung wilder Kinder ist eine Folge ihrer Isolation.

Die andere Position, drastisch von dem berühmten französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss formuliert: "Die wilden Kinder können kulturelle Monstrositäten sein, sie sind aber auf keinen Fall zuverlässige Zeugen eines vergangenen Zustands."

Ein ungewöhnliches Experiment

Immer noch ist es eine offene Frage, welche Dominanz verhaltensbiologische Rudimente der Evolution bei der Entwicklung von Kindern einnehmen können.

Donald Kellogg wurde im Alter von zehn Monaten das Schimpansenweibchen Gua zur Seite gestellt. Donalds Vater, der Psychologe Winthrop Kellogg, wollte erforschen, wie sich ein Affenkind entwickeln würde, bekäme es die gleiche Erziehung wie ein Menschenkind. Gua und Donald wurden als Geschwisterpaar erzogen.

Doch das Schimpansenmädchen entwickelte sich viel schneller. Mit 19 Monaten konnte Donald gerade mal sechs Wörter sagen. Normal für dieses Alter wären 50. Dafür verfügte er über eine Reihe von Grunz- Schrei- und Belllauten, die er von Gua übernommen hatte.

Nicht der Affe hatte mit dem "Nachäffen" begonnen, sondern der Mensch, der offenbar ein besonders Talent zum Nachahmen hat. Nach neun Monaten brach Dr. Kellog sein kühnes Experiment ab.

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