Versöhnung mit der Vergangenheit
Im Bernstein
Brita Steinwendtners Roman greift ein Thema auf, das in Österreich auf fruchtbaren Boden fällt: Fast jeder hier hat einen Vater, Onkel, Großvater oder eine Tante, die mit den Nationalsozialisten zumindest sympathisiert oder für deren Anliegen gekämpft haben.
8. April 2017, 21:58
Ein kleiner Koffer aus Rehleder, braun und mit Wasserflecken überzogen, ist alles, was Isa von ihrem Vater geblieben ist. Ein kleiner Koffer, gefüllt mit vergilbten Briefen, Fotos und Dokumenten. Die Schrift auf den Blättern ist blass geworden. Was macht man mit einem so geheimnisvollen Erbe, mit Briefen, die nicht für einen selbst, sondern für jemand anderen bestimmt waren? Nur nicht anrühren, meint Isas innere Stimme. Bis zu jenem Augenblick, da ihre Neugier zu groß wird.
Ihr Vater ist ein Nazi gewesen, das weiß Isa schon länger, gefallen in Russland, nahe der Wolga. Sie will nichts mit ihm zu tun haben. Doch eines Tages taucht er plötzlich wieder auf, setzt sich in ihren Gedanken fest und lässt sich nicht mehr abschütteln.
Die Schatten der Väter
"Im Bernstein" greift ein Thema auf, das in Österreich auf fruchtbaren Boden fällt. Fast jeder hier hat einen Vater, Onkel, Großvater oder eine Tante, die mit den Nationalsozialisten sympathisiert oder für deren Anliegen gekämpft haben. Die meisten dieser Menschen sind längst gestorben, doch ihr Schatten fällt bis in unsere Tage.
Auch Isa, Hauptfigur aus Brita Steinwendtners Roman, wird den Vater nicht los, obwohl sie ihn selbst gar nicht gekannt hat. Als sie zur Welt kam, war er im Feld und wenige Monate später tot. Isas Mutter hat ihre Kinder allein aufgezogen und die Erinnerungsstücke an den Vater in einem Koffer verschlossen. Sie hat wenig erzählt. Also muss Isa allein nach ihren Wurzeln suchen, wenn sie sich selbst begegnen will. Ähnlich wie ihre Mutter trägt sie das Gefühl in sich, nicht wirklich ans Leben glauben zu können.
Diese Isa, wie sie Brita Steinwendtner porträtiert, ist eine kluge und empfindsame Frau: eine erfolgreiche Journalistin, Eigentümerin einer privaten Ideenagentur, mit der sie viel versprechende Projekte entwickelt. Und trotzdem spürt sie, dass der Krieg in ihr weiterlebt, obwohl er bald 50 Jahre zurückliegt. Er nagt an ihr und zehrt. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Isa just in jenen Tagen und Wochen den Entschluss fasst, ihrem toten Vater nachzuspüren, da der Irakkrieg beginnt. Damals und Heute durchdringen sich, die Zeitebenen fließen ineinander.
Geschichte verschwindet nicht
Brita Steinwendtners Roman hat viele Klänge und Tonarten. Er wechselt zwischen Prosa und Poesie, er stellt Dokumentarisches direkt neben die Fiktion. Eine lebendige Erzählform, die nur dann aus dem Rahmen fällt, wenn sich Klischees einschleichen. Dort, wo sich Brita Steinwendtner zügelt, entsteht ein spannender Dialog zwischen der Hauptfigur und dem verstorbenen Vater.
Isa geht es nicht darum, die Vater- und Großvatergeneration anzuklagen, sie zu verdammen oder zu entschuldigen. Sie tastet sich an die Figuren heran, um damit sich selbst besser verstehen zu lernen. Geschichte ist nichts, was man leicht überlebt, sie verschwindet nicht so schnell aus dem kollektiven Gedächtnis.
Sie habe es satt, als Journalistin immer die Antworten geben zu müssen, erkennt Isa, sie wolle endlich auch ratlos sein dürfen. Und so wird dieser Roman ein Buch der Fragen. Und das in einer Sprache, die nichts festschreiben mag und manchmal etwas vage bleibt, auch schwebend. Dort, wo sie auf festem Boden steht, gewinnt der Roman schärfere Konturen.
Späte Umarmung
Isa reist ihrem Vater bis nach Russland hinterher, bis sie auf jenem Schlachtfeld steht, in dem er begraben liegt. Über diesen Weg bis zur Wolga versöhnt sie sich mit sich selbst, so wie sie endlich auch den Vater als Teil ihrer Biografie anerkennen kann. Eine späte Umarmung, zögerlich, aber doch.
Schicht um Schicht lagere sich das Leben auf dem einzelnen Menschen ab, heißt es im Roman einmal, und Schicht für Schicht müsse man es wieder abtragen, um zum Eigentlichen zu finden. Um dann endlich anzukommen bei sich selbst. Wo auch immer dieser Ort liegen mag.
Buch-Tipp
Brita Steinwendtner, "Im Bernstein", Haymon Verlag, ISBN 3852184673
Tipp
Eine Kolumne zur Literatur, verfasst von Brita Steinwendtner, können Sie am Montag, dem 16. Mai, auf oe1.ORF.at lesen.