Ein mitreißender Roman

Weißes Wasser

"Weißes Wasser" ist ein mitreißender Roman über die Leidenschaft, die Liebe, das Leben, die Natur und die Politik, mit dem der knapp 50-jährige, mehrfach preisgekrönte Autor Tim Parks neuerlich seine schriftstellerischen Fähigkeiten unter Beweis stellt.

Ist man plötzlich allein, kommt einem der Horizont des Flusses entgegen. Er wirkt glasig, und während das Rauschen anschwillt, gewinnt das Wasser an Masse und sein Sog wird entschiedener. Die Berge sind ganz still. Man ist bereits über den letzten Umkehrpunkt hinaus. Man muss sich einen Weg suchen.

In den Südtiroler Alpen trifft sich eine Gruppe von englischen Kajakfahrern zu einem Fortgeschrittenenkurs: sechs Erwachsene und neun Jugendliche. Allen ist bewusst, dass es dabei nicht nur um die Verbesserung von Paddeltechniken oder um außergewöhnliche Naturerlebnisse geht. Es geht auch um eine "Gemeinschaftserfahrung". Viele erwarten sich im Wildwasser innere Erneuerung und - als Belohnung für die Entbehrungen und harten körperlichen Belastungen - ein wieder erwachtes Glücksgefühl.

Ich glaube, dass viele der Leute, die sich auf dem Fluss in Gefahr bringen, Angst haben. Das klingt komisch, aber ich bin ziemlich sicher, es ist so. Angst vor dem Sterben, Angst davor, sich niederzulassen. Angst, das Leben könnte anfangen, und Angst, dass es niemals anfangen wird.

Etwas "wirklich Wichtiges"

Die Gruppe der sportlichen Selbstbetrüger wird geleitet vom ebenso wortkargen, wie charismatischen Kajak-Trainer Clive und seiner jungen, italienischen Freundin Michela. Für beide ist diese Arbeit mehr als bloßer Gelderwerb, sie ist Teil ihres Engagements, sind sie doch fanatische Globalisierungsgegner und militante Umweltschützer. Bei so viel Engagement übersehen sie jedoch, dass sie selbst immer weiter auseinander driften. Tief erschüttert vom unmittelbar erlebten Tod zweier Demonstranten, verbohrt sich der stramme Grüne immer stärker in seine Verachtung gegen jede Form von Genuss, Lüge und Blindheit. Während er düster andeutet, etwas "wirklich Wichtiges" tun zu müssen, steuert seine ihn abgöttisch liebende Partnerin dramatisch auf eine Selbstzerstörung zu.

Heh! Micky! Was macht sie denn? Hier geht's raus! Um Gottes Willen, rief Clive, fahr ans Ufer! Aufrecht sitzend hob das Mädchen ihr Paddel und warf es in den Strom.

Stärken und Schwächen zeigen sich

Als eigentliche Hauptfigur kristallisiert sich jedoch bald der Bankdirektor Vince heraus, dessen Leben durch den plötzlichen Tod seiner Frau völlig aus der Bahn geraten ist. Gemeinsam mit seiner 15-jährigen Tochter sucht er nach neuem Sinn. Seine Beobachtungen der einzelnen allzu verschiedenen Gruppenmitglieder, seine schnell wechselnden Gedanken zu sportlichen Abenteuern einerseits und seiner persönlichen Aussichtslosigkeit andererseits sind es, die den abwechslungsreichen Handlungsstrang zusammenhalten.

Der wilde Strom konfrontiert alle Teilnehmer mit ihren Stärken und Schwächen. Menschen, die sich normalerweise nicht begegnen würden, erleben gemeinsam dramatische Situationen. Aus harmlosen Disputen wird urplötzlich rohe Gewalt. Die Konfrontation Umweltschützer gegen Großbankier ist ebenso spannend zu lesen wie der langsame Bruch einer vermeintlich idealen Liebe.

Authentisch und faszinierend

Tim Parks hat in "Weißes Wasser" zweifellos auch viel Autobiografisches einfließen lassen. Der Brite zog 1981 nach Italien. Er lebt heute mit seiner italienischen Frau und seinen drei Kindern in Verona. Das wilde Wasser kennt er aus nächster Nähe und wahrscheinlich sind es diese unmittelbaren Erfahrungen, die seine Schilderungen der Südtiroler Naturgewalten so authentisch und faszinierend machen.

Buch-Tipp
Tim Parks, "Weißes Wasser", aus dem Englischen von Ulrike Becker, Kunstmann Verlag, ISBN 3888973821