Aber nur noch wenige Tage mit Duft!

"Hier ruht Mathilde.“

Es gibt zumindest einen Grund, nicht auf den Herbst, den November, den Nebel, die Kälte, Allerseelen, Kerzen- und Astern-Verkäufer zu warten, um den jährlichen Besuch bei Gräbern zu absolvieren: Den Friedhof St. Marx im Frühling.

Es ist nämlich kaum irgendwo derartig intensiv Frühling wie in diesem kleinen Rechteck, eingepfercht zwischen die lärmigen Südost-Tangenten-Abfahrts-Schlaufen, die ratternde S-Bahn, einen Sportplatz und die schlichten, faden Nachkriegs-Gemeindebauten der Hofmannsthalgasse. Einziger architektonischer Lichtblick neuerdings: Der gegenüberliegende Telekom-Kreuzer von Günther Domenig.

Wir befinden uns also im dritten Bezirk in Wien, dort wo der dritte in die enteren Gründe außerhalb des Gürtels auslappt. St. Marx. Dieses Friedhofsgelände nun, das amtlich gar kein Friedhof mehr ist, sondern eine Parkanlage, hat die höchste Konzentration von Fliederbüschen des gesamten Stadtgebiets. Jetzt gerade blühen die alle auf einmal. Und dazu jede Menge Kastanien, die derzeit auch nichts besseres zu tun wissen. Deshalb ist dort im Moment soviel Frühling.

Für empfindliche Nasen ist das zuviel. An manchen Hotspots ist der Flieder-Duft so heavy, dass es stinkt. Doch es kann dieser zu heftigen Geruchsbelastung in Friedhofszonen entflohen werden, die nicht so hochprozentig fliederverseucht sind. Für alle, denen Natur, ob blühend oder nicht, zu wenig und zu langweilig ist, hat der St. Marxer Friedhof wie alle älteren Friedhöfe den Vorteil, dass man kein Buch gegen die Langeweile mitzunehmen braucht. Denn es gibt genug zu lesen.

Viele Grabinschriften sind vor einigen Jahren restauriert und damit lesbar gemacht worden. So erfährt man nun, dass hier eine "Fischhandlerswitwe“ und dort eine "bürgerl. Buchbinders Gattin“ unter der Erde liegt. Der Friedhof St. Marx ist ein Biedermeierfriedhof, er wurde zwischen 1784 und 1874 belegt, deshalb lesen sich die Inschriften oft wie die Personenverzeichnisse von Nestroy-Stücken. Zwar kann man sich vorstellen, was ein "k.k.Postamts Verwalter“, ein "bgl. Lust- u. Ziergärtner“ oder ein "magistratischer Markt Ober Comissär“ zu Lebzeiten getan haben, aber wovon lebte ein "Bierversilberer“? Es ist ziemlich einfach, er hat Bier zu Silber gemacht, also verkauft.

Mein Lieblingsgrab ist aber dieses: "Hier ruht Mathilde.“ Ganz groß steht das da: "Hier ruht Mathilde“ Punkt. Nichts weiter. Und klein darunter: "Und Herr Josef Sommer, gewes. Germverschleißer“. Was war Mathilde dem gewesenen Germverschleißer? Liebste Hefeteigbäckerin? Tochter? Ehefrau? Geliebte? Schoßhündchen? Hatte sie gar nichts mit ihm zu tun? Ich werde sie weiterhin besuchen und darüber nachdenken.

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