US-Campus-Leben
Ich bin Charlotte Simmons
Mr. Zeitgeist ist wieder da. Und auch mit 75 weiß er, wo es heutzutage heiß hergeht. Nämlich da, wo sich Amerikas junge Eliten versammeln. An den teuren Colleges der Vereinigten Staaten, bevölkert von Töchtern und Söhnen der High Society.
8. April 2017, 21:58
Charlotte Simmons ist ein gut behütetes, braves Mädchen aus der amerikanischen Provinz. Dank ihrer hervorragenden Schulleistungen und der tatkräftigen Unterstützung einer ihr wohl gesonnenen Lehrerin erlangt sie etwas für ihre Verhältnisse Außerordentliches: ein Stipendium an der Dupont University in Pennsylvania. Voller Idealismus und Enthusiasmus macht sich das 18-jährige Genie aus den Bergen North Carolinas auf in den heiß ersehnten Olymp des Wissens.
Aufeinandertreffen zweier Amerika
Schon die erste Begegnung mit ihrer Zimmergenossin, der magersüchtigen, sarkastischen, snobistischen Beverly Amory eröffnet das eigentliche Thema des Romans: das Aufeinandertreffen des ländlich-konservativen Amerika des Bible Belt mit dem liberal-hedonistischen der Nordost- und Westküste. Hier trifft der einfache Pickup von Charlottes Eltern auf den Benzin fressenden Pseudo-Geländewagen mit dem Kürzel SUV der Familie Amory, der ehemalige Arbeiter in einer Schuhfabrik auf den Chief Executive Officer einer Versicherungsgesellschaft. Charlotte freut sich auf die Französisch-Seminare, Beverly mag die Franzosen nicht, seit die sich so anti-amerikanisch geben.
"Ein großer Tag", sagte Mr. Amory. "Und, sind Sie bereit für das alles?" Er schwenkte die Hand in Richtung der Fenster, als wollte er den ganzen Campus einschließen. "Ich glaube schon", sagte Charlotte. "Ich hoffe es". Warum fiel ihr bloß nichts Besseres ein als diese kindlichen Höflichkeiten?
Alkohol, Partys und Sex
Das Leben am Campus stellt sich für Charlotte schnell als große Enttäuschung dar. Nichts ist so, wie sie sich die ehrwürdige Welt des Geistes vorgestellt hat. Dupont ist völlig heruntergekommen, die Räumlichkeiten versifft, die Manieren roh, die Professoren korrupt und die Studenten scheinen nur drei Ideale zu kennen: Alkohol, Partys und Sex.
Sex! Sex! Er gehörte hier zur Atemluft wie Stickstoff und Sauerstoff! Der ganze Campus war damit getränkt! geschmiert! glitschte davon! barst davon! bebte davon! pulsierte rund um die Uhr davon!
Das jungfräuliche Mauerblümchen Charlotte sieht sich zunächst chancenlos gegenüber ihren weiblichen Konkurrentinnen mit ihren hautengen Jeans, ihren perfekten Körpern und ihrem oft absichtlich dümmlichen Auftreten. Doch bald stellt sich heraus, dass gerade ihre Andersartigkeit den begehrenswerten Männern ins Auge springt. Jojo, der verwöhnte Star des Basketball-Teams, belegt plötzlich komplexe Philosophie-Vorlesungen, um der klugen Charlotte zu imponieren. Hoyt von der coolsten Studentenvereinigung lässt sich für sie sogar verprügeln. Und der unterwürfige Adam, der als Tutor für Geld die Arbeiten der Basketball-Stars schreibt, würde alles dafür geben, der außergewöhnlichen Südstaatlerin näher zu kommen.
Einblick in die US-amerikanische Gesellschaft
In den 60er Jahren gehörte Tom Wolfe mit Truman Capote, Norman Mailer und Gay Talese zu den Gründern des "New Journalism", eines Reportagestils, der mit literarischen Stilmitteln arbeitet. Auch für seinen nach den Welterfolgen "Fegefeuer der Eitelkeiten" und "Ein ganzer Kerl" erst dritten Roman hat Wolfe monatelang in amerikanischen Universitäten recherchiert. Das knapp 800 Seiten starke Ergebnis ist nicht nur ein spannender Einblick ins heruntergekommene Bildungssystem und den Riss in der US-amerikanischen Gesellschaft, sondern vor allem eine beeindruckende Analyse der Anpassung.
Buch-Tipp
Tom Wolfe, "Ich bin Charlotte Simmons", aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ahlers, Karl Blessing Verlag, ISBN 389667272