Wenn die Zeit rückwärts läuft
Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli
Was wäre, wenn die Zeit rückwärts läuft? Wenn sich mein Leben nicht in die Zukunft entwickelt, sondern zurück? Andrew Sean Greer hat sich eine neue Variante des seit Jahrhunderten beliebten Spiels mit verschiedenen Zeitebenen ausgedacht.
8. April 2017, 21:58
Andrew Sean Greers Held Max Tivoli, 1871 in San Francisco geboren und mit filmreifem literarischen Getöse während der Dynamitsprengung der Felsenbank in der Meerstraße von Golden Gate gezeugt, wird im Körper eines 70-Jährigen geboren. So wird er also physisch immer jünger, während er im Kopf und im Herzen altert. Lediglich zur Lebensmitte, mit 35, hat er sein wahres Alter: Psyche und äußere Erscheinung stimmen überein.
Liebe eines Lebens
Natürlich kann man sofort auf logische Schwachstellen in dieser Fiktion hinweisen: Max Tivoli, dessen Körper schrumpft, als er zum Kind wird, müsste ja mit der Körpergröße eines 70-Jährigen geboren worden sein. Klar, dass sich aus dieser Konstellation viele Verwirrungen und Verwicklungen ergeben, vor allem in der Liebe.
Als junger Man verliebt sich Max Tivoli in das junge Mädchen Alice, aber auf Grund seines Aussehens hat er bei ihr keine Chance, sondern wird zum Geliebten ihrer Mutter. Später, um die Lebensmitte, an dem für ihn eigentlich einzig möglichen Zeitpunkt, trifft er Alice als junge Witwe wieder. Er gewinnt ihre Liebe, und die beiden heiraten. Aber als Alice zur Fotokünstlerin wird, verliert er sie an einen andern Mann. Doch ihr Sohn Sam ist von ihm, Max Tivoli. Und gegen Ende seines Lebens, als er physisch mit seinem Sohn gleichaltrig ist, findet er ihn und Alice nach langer Suche wieder. Und schafft es, bei ihnen als verlassenes Kind unterzukommen.
Lieben und geliebt werden
In dieser Zeit schreibt er seine erstaunliche Geschichte oder, wie der englische Originaltitel lautet, seine "confessions" auf - für den Sohn und für Alice, der er damit sagen will: "Es hat in meinem Leben keinen Augenblick gegeben, da ich dich nicht geliebt habe." Er weiß, er hat nicht mehr viel Zeit, er kennt ja sein Todesjahr. Und er will nicht warten, bis er zum hilflosen Baby wird, sondern setzt seinem Leben ein Ende.
Davor aber hat ein anderer seinetwegen seinem Leben ein Ende gesetzt: sein lebenslanger Freund Hughie, den er gebeten hat, sich heimlich aus dem Staub zu machen, um ihn bei Alice und dem gemeinsamen Sohn zurückzulassen. Doch für Hughie war Max Tivoli die Liebe seines Lebens. Denn das ist es, was dieser Roman von seinem ersten Satz an erzählen will: "Jeder ist die Liebe im Leben eines anderen."
Weil das Buch eine private Geschichte erzählt, wird Zeitgeschichte nahezu ausgespart. "Es gibt vom Krieg nichts zu erzählen", sagt Max Tivoli, der selbst am Ersten Weltkrieg teilgenommen hat. Nur das Erdbeben von San Francisco und die ersten in Autos eingebauten Radios schauen als Zeitkolorit zum Fenster der Geschichte herein. Die auf das Private konzentrierte Lebens- und Liebesgeschichte bekommt dadurch ihre starken Momente, etwa wenn die Gefühle des Vaters durchkommen, der seinen Sohn findet, aber sich ihm nicht als Vater zeigen kann oder wie sich umgekehrt der Sohn mit imaginären Vaterbildern aus der Realität hinausträumt.
Außenseiter-Wahrnehmungen in blumigem Stil
Was die Wirkung des Buches gelegentlich beeinträchtig, ist sein Stil. Wenn da blumig vom "Witwer meiner eigenen Hoffnungen" die Rede ist oder, um bei der Blume zu bleiben, ein Fleck "wie das dunkle Herz einer weißen Rose" aufblüht und vor allem, wenn allzu oft "wir" gesagt wird, um mit bedeutungsvoller Geste Kalenderweisheiten in die Welt zu setzen, dann muss man das Lesetempo gelegentlich ziemlich beschleunigen.
Die gelungensten Passagen sind die Außenseiter-Wahrnehmungen, etwa wenn Max Tivoli das ehemalige Dienstmädchen seiner Familie als Prostituierte und später als alternde Puffmutter trifft. Gelesen werden will das Buch wohl, wie auf den letzten Seiten nahe gelegt wird, "als Fallstudie zu einem Wahn: immer währender Liebe". Doch in seinem nächsten Buch will Andrew Greer das Gegenbeispiel einer dauerhafteren Liebe erzählen.
Buch-Tipp
Andrew Sean Greer, "Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli", aus dem Englischen von Uda Strätling, S. Fischer Verlag, ISBN 3100278151