Neue Sichtweisen
Disability Studies
Mit dem Phänomen Behinderung beschäftigen sich vor allem Wissenschaften, wie Medizin oder Heilpädagogik. Bis heute steht dabei ein Defizit orientiertes Menschenbild im Vordergrund. Einen anderen Zugang wählen die so genannten "Disability Studies".
8. April 2017, 21:58
Soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Nicht der behinderte Mensch ist das Forschungsobjekt der Disability Studies, sondern die Behinderungen die von der Gesellschaft ausgehen, so Anne Waldschmidt, Professorin für Soziologie in der Heilpädagogik an der Universität Köln.
Begründet wurden die Disability Studies in den USA von dem selbst behinderten Medizinsoziologen Irving Zola und in Großbritannien von dem ebenfalls selbst betroffenen Sozialwissenschafter Michael Oliver. In den 1980er Jahren hat sich das interdisziplinäre Forschungsfeld zunehmend an angloamerikanischen Hochschulen etabliert. Mittlerweile sind die Impulse auch im deutschsprachigen Raum angekommen.
"Peer research"
Ähnlich wie die Frauen- und Genderforschung ihre Wurzeln in der Frauenbewegung hat, sind auch die Disability Studies eng mit der Geschichte und den Ansätzen der internationalen Behindertenbewegung verknüpft. Eine der Zielsetzungen ist es "peer research" zu betreiben, das heißt auch "parteiliche Forschung von Behinderten, für Behinderte", so Anne Waldschmidt über die Disability Studies, die das Phänomen Behinderung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beleuchten.
Emanzipatorische Forschung
Wie beeinflussen sich Praxis und Theorie? Dieser Frage widmet sich auch Mark Priestley, Wissenschafter am 2Center for Disabiliy Studies" an der University of Leeds in Großbritannien.
Mehr als 30 Studenten belegen zur Zeit die neue Studienrichtung, die Vorlesungen sind aber auch bei Studenten der Sozial- und Kulturwissenschaften sehr beliebt, erzählt Mark Priestly, der in seiner aktuellen Forschungsarbeit die Behindertenpolitik in den verschiedenen europäischen Ländern.
Er selbst ist von keiner Körper- oder Sinnesbeeinträchtigung betroffen. Sein Background liegt viel mehr in der Rehabilitationsarbeit mit blinden Menschen. Über diese Praxis -Schiene ist er im Laufe seines Studiums auf die Disability Studies gestoßen. Besonders angetan hat es ihm der emanzipatorische Ansatz, erzählt Mark Priestly. "Eines dieser Grundprinzipien lautet, dass man sich nicht mit Diskriminierung wissenschaftlich auseinandersetzen kann, ohne etwas dagegen zu unternehmen."
Sozialpolitische Definition von Behinderung
Vic Finkelstein, einer der führenden Köpfe der Disability Studies, war als weißer Südafrikaner in der Anti-Apartheidsbewegung engagiert und wurde des Landes verwiesen. Seine politischen Erfahrungen hat der Wissenschafter in die Behindertenbewegung eingebracht und gilt als Pionier des Disability Rights Movement" in Großbritannien.
Vic Finkelstein ist "Visiting Senior Research Fellow" am Centre for Disability Studies" an der University of Leeds" und Gründungsmitglied der Union of the Physically Impaired Against Segregation".
"Um es mit den Worten dieser Zeit zu sagen: die Hauptsorge galt damals der Separation von behinderten Menschen. Es gab spezielle Schulen und spezielle Wohnheime. Da ich aus Südafrika kam, ist mir natürlich aufgefallen, dass die gleiche Sprache verwendet wurde, wie sie auch im Apartheidsregime üblich war", erinnert sich Vic Finkelstein an die ersten Jahre in seiner neuen Heimat, als die sozialpolitische Definition von Behinderung noch kein Thema war.
"In Südafrika gab es Segregation und Sondereinrichtungen für die schwarze Bevölkerung. Es war wirklich eine so auffällige Parallele, dass es für jemanden wie mich unmöglich war, nicht diese Assoziationen zu haben und die Verbindungen zu sehen. Damals hab ich zum ersten Mal begriffen, dass der Umgang mit Behinderung eine Form der Unterdrückung ist."
Das "soziale Modell"
Mark Priestly beschreibt das "soziale Modell" als Tool für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung: "Wenn wir fragen: Warum ist diese Mutter benachteiligt? Ist sie benachteiligt weil sie eine zerebrale Lähmung hat oder ist sie aufgrund ihrer sozialen Umwelt benachteiligt? Das soziale Modell funktioniert so, dass man sich die Frage stellt: Was behindert diese Frau an der Ausübung ihrer Mutterrolle und was müsste sich ändern? Es geht darum sich die sozialen Barrieren vor Augen zu führen, die ihre Mutterschaft behindern und nicht um die physischen Barrieren, also um die körperliche Beeinträchtigung dieser Person."
Die Sendung "Disability Studies - Behinderung neu denken" von Josef Bichler und Ina Zwerger ist eine Kooperation mit der Medieninitiative SENSI_POOL, die neue Wege für Menschen mit Behinderungen aufzeigen will.
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.
Links
Disability Studies in Deutschland
Volker Schönwiese
bpb.de - behindertenpolitisches Paradigma Selbstbestimmung
University of Leeds - Center for Disability Studies