Das Leben des Kostkindes

Berge, Meere, Menschen

Maria E. Brunners erster Roman ist ein Text über Abhängigkeitsstrukturen: familiärer, wie gesellschaftlicher, wie institutioneller. Vor allem aber ist es ein Roman über Sprachlosigkeit und den Versuch, diese Sprachlosigkeit zu überwinden.

20 Jahre hat sich Maria E. Brunner Zeit gelassen, um die Geschichte vom Kostkind zu erzählen: Das Kostkind, so der Name der Hauptfigur, wird an Kindes statt von Ziehmutter und Kostvater auf einem Südtiroler Bergbauernhof aufgenommen. Am so genannten Einödhof muss sich das Kind sein Dasein, seine Kost, hart verdienen. Selbst eheliche Pflichten werden vom Kostvater eingefordert, als die Mutter diesen, krankheitsbedingt, nicht mehr nachkommen kann.

Fluchtversuche aus der familiären Enge

Bedingt durch die besondere Erzählstruktur und sprachliche Form des Romans, wird das Geschehen seiner Zeit und Geografie enthoben. Der Anfang des Romans wird in die Zeit der Italianisierung und der Optionszeit Südtirols eingebettet. Innerhalb der titelgebenden Eckdaten des Lebens des Kostkindes, "Berge, Meere, Menschen", wiederholen sich dessen Fluchtversuche aus der familiären Enge und dessen gehorsames Wieder-nach-Hause-Kommen.

Brunner hat für ihre Erzählung verschiedene Handlungsstränge gewählt, die keiner Chronologie folgen. So entsteht der Eindruck einer spiralförmigen Erzählstruktur, die gleichzeitig auch die lebenslängliche Abhängigkeit, Ausweglosigkeit, Sprachlosigkeit und gegenseitige Befremdung der Protagonisten miterzählt. Auf dieser Endlosspirale des Sich-selbst-fremd-Werdens und des Verstummens kehren bis heute ungelöste Konflikte wieder: die Zeit des Faschismus, der die Südtiroler Familien in Optanten und Nicht-Optanten spaltet, die Zeit des beginnenden Tourismus in den 50er und 60er Jahren, der zu einer weiteren ökonomischen Abhängigkeit der Bauern führt und religiöses Brauchtum und Traditionen zur Pantomime verkommen lässt, das Abwandern der nachwachsenden Generation von den Höfen in eine Zukunft mit wenig Chancen.

Versuch einer Gegenbewegung

Ein zusätzlicher Abhängigkeitskreislauf zeigt sich am beispielhaften Frauenschicksal der Mutter, die weder ihrer Bestimmung als Mutter nachkommen kann - eine Fehlgeburt oder Abtreibung wird angedeutet -, noch als eigenständige Person einen Platz am Hof einnimmt.

Das Kostkind selbst tritt den mühsamen Versuch einer Gegenbewegung an, versucht sich durch Bildung zu emanzipieren. Seine Sprachlosigkeit hat sich bis in seine Liebesbeziehungen fortgefressen. Die Beziehung mit einem Dichter wird mittels Literatur ästhetiziert und auf Distanz gehalten. So schreibt das Kostkind in einem Brief an den Dichter: Da dein Brief vor allem Literatur ist (Fotokopie als Zeichen) und mehr als ein gemeiner Brief an mich. Daher kann ich diesen Brief nicht als Brief lesen. Der Dichter will dem Kostkind seine Sprache vorschreiben. So wird auch er nur zur weiteren Schwelle, die überschritten werden muss.

Vielstimmige Sprache

Südtirol ist durch seine spezielle Geschichte, sprachliche und geografische Situation in diesem Roman sicherlich auch Sinnbild für die Zerrissenheit des Kostkindes. Wobei die Autorin nicht mit Ironie spart, wenn sie von heimischen Wissenschaftlern schreibt, die sich am beliebten Thema Bilingualität und Identität abarbeiten.

Man folgt als Leser dieses Buches einer vielstimmigen Sprache. Der Bewusstseinsstrom des Kostkindes zeichnet sich durch konsequent fehlende Punktuation, elliptische Sätze und verschobene Satzgefüge aus. Rastlosigkeit wird suggeriert. Vorgänge werden selten geschildert, viel mehr indirekt dargestellt. Dazwischen mischen sich die Stimmen des Dorfes mit dialektalen Wörtern, sowie italienische Sprachfetzen. Maria E. Brunner ist es mit ihrem Debütroman gelungen, in einer höchst kritischen Sprache Sprachlosigkeit und Verdrängung darzustellen.

Buch-Tipp
Maria E. Brunner, "Berge, Meere, Menschen", Folio Verlag, ISBN 3852562716