Allen anderen voraus

Das Jahrhundert der Avantgarden

Von Avantgarden im Plural sprechen die Autoren Cornelia Klinger und Wolfgang Müller-Funk, denn in der Literatur, in der bildenden Kunst, aber auch in der Musik oder der Architektur blieb vor rund 100 Jahren sozusagen kein Stein auf dem anderen.

In vielerlei Hinsicht griffen manche Avantgarden des 20. Jahrhunderts auf romantische Vorläufer zurück: mit dem Mut zum Fragment, in ihren Auseinandersetzungen mit dem Hässlichen, dem Irrationalen, der Nachtseite der Existenz. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Voraussetzungen grundlegend andere:

Eine ganz andere, neue Kunst wurde proklamiert, in Deklarationen und Programmen wie etwa den Manifesten der Surrealisten. Es ging nicht "nur" um den Fortschritt in den einzelnen Kunstsparten, nein, das Leben selbst sollte Kunst werden; ästhetische, soziale und politische "Praxis" sollten eins werden. Das Sendungsbewusstsein konnte durchaus quasi-religiöse Züge annehmen, wie Wolfgang Müller-Funk in seinem Beitrag über "Prophetie und Ekstase" darstellt:

Die moderne Kunst füllt die Leere und die avantgardistischen Manifeste sind die sie begleitenden Kommentare. Heilung, Verzweiflung, Linderung, Trost, das sind je nach dichterischem und künstlerischem Temperament die Motive, die hinter jenen Sinngebungen stehen, die man nach dem Tod Gottes als Neue Mythologie begreifen kann.

Null Bock auf Manifeste

Die großen Durchbrüche etwa in der Malerei kamen von Künstlern, die sich um Programme und Manifeste eher wenig scherten, wie zum Beispiel Pablo Picasso. Die interessanteste "Programmkunst" entstand dort, wo auch die verwendeten Medien neu waren: Fotografie, Grafik, Film.

Von den Massenmedien fasziniert waren allerdings auch die totalitären politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der durchaus innovative Gebrauch der Medien wurde zu einem Kennzeichen der Diktaturen: in den Filmen von Leni Riefenstahl und den Inszenierungen der nationalsozialistischen Parteitage, aber auch in der Ästhetik früher sowjetischer Filme. Auch mit der ästhetischen Durchdringung des Alltags knüpften die totalitären Bewegungen an avantgardistische Ideen an.

Wechselwirkung zwischen Avantgarden und Politik

Die tiefere Gemeinsamkeit zwischen Avantgarden und totalitären Strömungen, meint Cornelia Klinger, war der Widerstand gegen eine sich zunehmend zersplitternde, ausdifferenzierende Gesellschaft, also ein gegen die Modernisierung gerichteter Impuls. Dennoch würde es zu weit führen, meint Klinger, die künstlerischen Avantgarden für die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich zu machen. Die Wechselwirkung zwischen Avantgarden und Politik wird in den Beiträgen dieses Buchs ebenso diskutiert wie Entwicklungen innerhalb von Literatur, bildender Kunst oder Medientheorie, oder zum Beispiel die Frage, ob es eine spezifisch jüdische Avantgarde gegeben hat.

Die Texte sind anspruchsvoll, mitunter aber auch sehr pointiert. Wenn etwa der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton erörtert, warum fast sämtliche moderne Literatur in England von Iren geschrieben wurde.

Die Briten waren immer eher elitär als avantgardistisch, mit einer Abscheu gegen revolutionäre Brüche. Es wird behauptet, dass sie eines Tages vom Linksverkehr zum Rechtsverkehr übergehen werden - aber allmählich.

Ein kurzes Jahrhundert

Das Jahrhundert der Avantgarden war ein kurzes. In den 1950er und 60er Jahren setzten die Avantgarden zwar zu einem zweiten Höhenflug an, die Fluxus-Bewegung, John Cage oder der Nouveau Roman loteten die Grenzen ihrer Genres aus; doch schon in den 1970er Jahren folgte der so genannten Postmodernismus, sprach man von den Avantgarden im Rückblick. Denn das Wort "Avantgarde", das im ursprünglichen, militärischen Sinn "Vorhut" bedeutet, das macht nur Sinn, wenn sozusagen die Marschrichtung feststeht.

Doch der geschichtsphilosophische Kompass, schreiben Cornelia Klinger und Wolfgang Müller-Funk, der ist heute verloren gegangen. Trotzdem: Sich mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts und ihrem Erbe auseinanderzusetzen, das bleibt spannend. Und sogar unterhaltsam.

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Buch-Tipp
Cornelia Klinger und Wolfgang Müller-Funk (Hg.), "Das Jahrhundert der Avantgarden", Wilhelm Fink Verlag, ISBN 3770538218