Lyrics ohne Lyrik

Lyrics

Es gibt da eine Frage, über die sich die westliche Welt seit den 1960er Jahren entzweit, und die Frage lautet: Wie viel Bob Dylan braucht der Mensch? Und wie viel Dylan braucht der Mensch, der Dylan braucht? Dylan-Fans könnten auch dieses Buch brauchen.

Erstens soll es natürlich Leute geben, die Bob Dylan gar nicht brauchen - das sind merkwürdige Leute, die jetzt duschen gehen können. Zweitens gibt es Menschen, die führen mit zehn bis zwanzig Dylan-Alben ein glückliches und erfülltes Dasein, und wenn der Meister in die Stadt kommt, kaufen sie sich ein Ticket und freuen sich auf das Konzert.

Drittens gibt es Menschen, die von Dylan nicht genug kriegen können, nicht genug Konzerte, nicht genug Platten, nicht genug Songs, nicht genug Neuigkeiten auf der Website. Bei diesen Menschen ist jetzt schon seit Oktober Weihnachten. Denn im Oktober erschienen zuerst Bob Dylans "chronicles volume 1", der erste Teil seiner lange und fiebrig erwarteten Autobiografie, die seit Anfang November auch auf deutsch vorliegt. Und soeben erschienen alle seine Song-Texte in deutscher Übersetzung.

Zwei Kilo Texte

Eigentlich soll man ein Buch ja ebenso wenig nach seinem Gewicht wie nach seinem Cover beurteilen, aber bei diesem Buch entsteht der Haben-wollen-Effekt durchaus auch aus seiner schieren Masse: 2 Kilo 30 Deka wiegen die "Lyrics 1962 bis 2001", und der Verlag hat sich wohl auch gedacht, dass das ein feines, fettes Weihnachtsgeschenk wäre. Und siehe da, ja! Die liegen schön schwer in der Hand, diese 1157 Seiten Dylan mit allen Song-Texten, die er bis 2001 geschrieben hat. Und: alle Texte zusätzlich in deutscher Übersetzung.

Das Buch bewirkt, dass man die Texte vielleicht überhaupt zum ersten Mal konzentriert liest, abgelöst von der dazugehörigen Musik, und sie bekommen dadurch einen eigenen Rhythmus und die originäre Sinnlichkeit eines Gedichts.

Komm, Lady, komm

Die Erwartungshaltung bekommt, egal auf welcher Seite man das Buch auch aufschlägt, einen Dämpfer. Seite 476, zum Beispiel, "Lay, lady, lay": "Komm, Lady, komm" heißt der Song übersetzt.

Komm, Lady, komm auf mein breites Messing-Bett, komm, Lady, komm auf mein breites Messingbett, welche Farben du auch im Geiste sehen magst, ich werde sie dir zeigen, und du wirst sie leuchten sehen.

Das ist irgendwie oje. So genau wollte man das eigentlich gar nicht wissen. Plötzlich ist jede Poesie dahin, das ist hart, kalt, viel zu direkt.

Dem Übersetzer die Hände gebunden

Liegt das an der Übersetzung? Oder an der Sprache Deutsch? Muss das so sein? Es muss, schreibt der Übersetzer Gisbert Haefs im Vorwort. Denn die deutsche Fassung hält sich an die vertraglichen Vorgaben von Bob Dylans Management, und die ließen, erklärt Haefs, nur minimale Abweichungen von der amerikanischen Original-Ausgabe zu; auch ein größerer Anmerkungsapparat war ausgeschlossen.

Haefs, renommierter Übersetzer und selbst Autor historischer Romane, hält sich also fast immer wörtlich an die Vorgabe, und so wird aus den englischen Lyrics keine deutsche Lyrik, sondern reine Info. Tatsächlich haben Dylans Texte auf Deutsch nicht selten die Sinnlichkeit einer vom Japanischen ins Deutsche übersetzten TV-Bedienungsanleitung.

Links vs. rechts

Das Buch enthält auf den linken Seiten die Dylan-Originale, auf den rechten die Übersetzungen und zerfällt so in zwei Teile: links Posie, rechts Information, links Dichter-Charme, rechts deutsche Gründlichkeit.

Trotzdem ist es erfreulich, dass es dieses Buch gibt. Es tut gut, es zu besitzen. Wie bei einem aufregenden Bildband, einem philosophischen Gesamtwerk oder einer fantastischen, aber schwierigen Platte: Man schaut vielleicht nie wieder rein, liest vielleicht nur winzige Teile, hört sich das vielleicht kein einziges Mal mehr ganz an, aber es würde einen unglücklich machen, wenn man dieses Buch, diese Bände, diese Musik nicht besäße.

Buch-Tipp
Bob Dylan, "Lyrics", übersetzt von Gisbert Haefs, Verlag Hoffmann und Campe, ISBN: 3455015913

Link
Bob Dylan