Der Fall Majorana - Teil 3

Der Mythos Ettore Majorana

Am 26. März 1938 verschwindet der sizilianische Physiker Ettore Majorana, dessen Arbeiten auch Werner Heisenberg beeinflussten, auf einer Schifffahrt von Palermo nach Neapel spurlos. Seit diesem Zeitpunkt existiert in Italien der "Kriminalfall Majorana".

1975 rollt ein Literat und Landsmann Ettore Majoranas den Fall wieder auf und schreibt einen philosophischen Kriminalroman: "Das Verschwinden des Ettore Majorana", der bald in viele Sprachen übersetzt wird.

Als der sizilianische Autor Leonardo Sciascia sein Buch veröffentlicht, ist der 1905 in Catania geborene Ausnahmephysiker bereits eine mythische Gestalt in der italienischen Wissenschaftsgeschichte. Zu dieser Mythologisierung haben die wenigen biographischen Selbstzeugnisse des Physikers ebenso beigetragen wie die Kommentare der Familienangehörigen und die Mundpropaganda der Wegfährten und Berufskollegen.

Wusste Majorana von der Brisanz seiner Arbeit?

Sciascia macht damit den Namen Ettore Majorana über Italien hinaus bekannt. Allerdings auf eine andere Art und Weise, wie sie in den Erinnerungen der Mitglieder der römischen Physikergruppe der Via Panisperna, die mit den Namen Enrico Fermi und Emilio Segrè zwei Nobelpreisträger hervorgebracht hat, weiterlebt.

Leonardo Sciascias gewagte These lautet: Ettore Majorana ist 1938 verschwunden, weil er bereits weiß, wohin die Kernspaltung führen wird: zum Atombombenabwurf über Hiroshima und Nagasaki. Die erste Kernspaltung wird offiziell mit dem 19. Dezember 1938 datiert.

Allerdings haben Fermi und seine Kollegen in Rom, als sie nach transuranischen Elementen suchten, ohne es zu wissen, bereits 1934 Kerne gespalten. Hat Ettore Majorana aus diesen Ergebnissen intuitiv die daraus ableitbaren Technologien erfasst?

Keine Lösung gesucht

Sciascia verbindet die Figur Majorana mit einem weiteren Mythos: jenem der Verweigerung des Wissenschaftlers gegenüber der Wissenschaft.

Er nimmt sich die literarische Freiheit, der Hypothese, Majorana hätte sich in ein Kloster zurückgezogen, mehr Glauben zu schenken als anderen. Dem Schriftsteller geht es in seinem Roman nicht darum, den "Kriminalfall Majorana" zu lösen.

Gespaltene Meinung

Die Wissenschaftler, vor allem die Mitglieder der Römischen Gruppe, finden in dieser literarischen Stilisierung jenen Ettore Majorana nicht wieder, den sie aus dem persönlichen Umgang kannten.

Der Autor Sciascia zerstört mit seinem Marjorana-Bild auch gleichzeitig ein Stück weit den Mythos der legendären Römischen Gruppe. Die Polemiken von Segrè und Amaldi, zwei Gralshütern dieses italienischen Wissenschaftsmythos, mit Sciascia waren nach dem Erscheinen des Buches sehr heftig.

Selbst heute noch sind die Wissenschaftler Italiens gespalten: Die einen halten Sciascias Vorgangsweise für legitim, die anderen, die Hüter des "Kanons" der offiziellen Meinungen, lehnen sie als Phantasterei ab.

Selbstmord?

Eine ganz andere Parallele zwischen dem "Fall Majorana" und der Literatur ergibt sich aus einer Erzählung des italienischen Experimentalphysikers Guiseppe Occhialini. Er hat 1947 das erste Meson entdeckt und war ein Bekannter von Ettore Majorana.

1938 kehrt Occhialini aus Brasilien zurück und trifft in Neapel noch einmal mit Ettore Majorana zusammen. Kurz danach ist der der sizilianische Physiker spurlos verschwunden.

"Wärst du einige Wochen später gekommen, hättest du mich nicht mehr angetroffen", soll Majorana damals gesagt haben. Occhialini versteht sofort, wovon die Rede ist. Auch er selbst hat in seinem Leben schon häufiger an Selbstmord 'gedacht'. Majoranas Antwort: "Es gibt Menschen, die davon reden und es gibt Menschen, die es tun".

Rückzug ins Kloster oder ertrunken im Meer?

Als Occhialini nach einiger Zeit wieder von Brasilien nach Italien zurückkehrt, ist Ettore Majorana bereits verschwunden.

Hat er sich auf der Schifffahrt von Palermo nach Neapel ins Meer gestürzt? Occhialini hat Gewissenbisse und malt sich den Tod im Wasser aus. Es ist jener des Martin Eden aus Jack Londons Roman.

"Es schien ihm, als glitte er einen glatten und unermesslichen, weichen und endlosen Abhang entlang. Als er am Grund ankam (wie? wo?), stürzte er in die Dunkelheit. Er wusste nur das eine: dass er in die Dunkelheit gefallen war. Und in demselben Augenblick, in dem er es wusste, hörte er auf, es zu wissen."

Und ob Ettore Majorana im Jahr 1938 tatsächlich in ein neapolitanisches Kloster verschwindet, wie Leonardo Sciascia spekuliert, oder so wie Jack Londons Martin Eden im Meer versinkt, ist letztlich ein Rätsel für die Polizei - und keine Frage der Literatur.

Mehr zum Fall Majorana in oe1.ORF.at
Die Atombombe und die Verantwortung des Wissens
Das Leben und Verschwinden des Ettore Majorana
Die Wissenschaft des Ettore Majorana

Hör-Tipp
Dimensionen, Mittwoch, 2. August 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Leonardo Sciascia, "Das Verschwinden des Ettore Majorana", Wagenbach, ISBN 3803112184.

Film-Tipp
Das Verschwinden des Ettore Majorana
Dokumentation, BRD, 1986
Drehbuch und Regie: Donatello Dubini und Fosco Dubini