Anna Tardos und ihr weltberühmtes Säuglingsheim Loczy
Miteinander vertraut werden
"Du bist ein Mensch. Und ich respektiere dich!" - Das ist für Anna Tardos ein Schlüsselsatz für den Umgang mit Kleinkindern. "Miteinander vertraut werden" - so lautet auch ein Buch der gebürtigen Wienerin, die das anerkannte Emmi-Pikler-Institut in Budapest leitet.
8. April 2017, 21:58
Anna Tardos über die Pikler-Erziehungsphilosophie
"Liebe kann man nicht verlangen", sagt Anna Tardos, die Direktorin und leitende Psychologin des international anerkannten Emmi-Pikler-Instituts in Budapest - auch Loczy genannt - "aber es ist möglich, Kindern die Erfahrung zu vermitteln, angenommen und geborgen zu sein".
Kleinkinder sind Menschen, keine Püppchen
"Du bist ein Mensch. Und ich respektiere dich!" Dies ist für Anna Tardos und ihre Mutter Emmi Pikler, die 1946 das Institut gründete und 1984 verstarb, ein Schlüsselsatz für den Umgang mit Kleinkindern. Der Dialog zwischen dem Erwachsenen und dem Kind ist schon im Säuglingsalter ausschlaggebend für die Entwicklung. Dabei sollte nicht nur auf die Art und Weise der Berührung durch die Hände geachtet werden, sondern auch auf die Art und Weise, wie mit Kleinkindern gesprochen wird:
"Wer sich Kleinkindern mit Achtsamkeit zuwendet, wird sie nicht als kleine "Püppchen" sehen, sondern von Anfang an als Menschen respektvoll behandeln. Das manipulative Eingreifen von Erwachsenen verhindert - in vielen Bereichen - die natürliche Entwicklung des Kindes. Ein gesunder Säugling entdeckt beispielsweise alle Bewegungsarten ganz von allein."
Vom Weinen und Trösten
"Stellen Sie sich vor, es würde Sie jemand betreuen, dessen Hände so groß sind wie Ihr ganzer Rücken", sagt die gebürtige Wienerin, die in ihrem Buch "Miteinander vertraut werden", das sie gemeinsam mit ihrer Mutter Emmi Pikler herausgab, nicht nur ausführlich darüber schreibt, sondern viele Themen der Kindererziehung aufgreift. Eine Kapitelüberschrift lautet etwa: "Vom Weinen und Trösten". Eltern kennen das oft stundenlange Tragen und Schaukeln eines Kindes im Arm, wenn es weint. In ihrem Kinderheim wird dieses lange Schaukeln und Tragen nicht praktiziert:
"In gewissem Sinn drückt der Erwachsene mit dem starken Schaukeln auch seine eigene Unruhe aus und überträgt sie zusätzlich auf den Säugling. Außerdem gewöhnt sich der Säugling daran. Es wird zu einem Bedürfnis, ohne das er nicht mehr zufrieden ist oder einschlafen kann. Es ist uns wichtig, dass dem Kind tatsächlich geholfen wird und nicht, dass es zu weinen aufhört ... Wenn man das Kind stundenlang herumträgt und wiegt, sollte einen nicht nur die Frage interessieren, was man ihm vielleicht damit gibt, sondern auch, was man ihm nimmt ..."
Das Emmi-Pikler-Institut
In dem international anerkannten Institut werden derzeit etwa 40 Säuglinge und Kleinkinder rund um die Uhr von rund 60 vorwiegend weiblichen Mitarbeitern betreut. Die Kinder sind in kleine Gruppen eingeteilt und werden während ihres Aufenthaltes im Heim jeweils immer von der gleichen Pflegerin betreut, um ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Dabei wird dem freien Lernen, Spielen und Sich-Bewegen viel Raum gegeben.
Auf Spenden angewiesen
Das Institut ist im Laufe der Jahrzehnte seit seinem Bestehen längst auch zur Bildungs- und Forschungsstätte geworden. Das Interesse an der Pikler-Philosophie im Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern hat weltweit zugenommen. Mehr als 1300 Veröffentlichungen dienen dem ständigen Austausch mit Institutionen und Universitäten im In- und Ausland. Dabei wird nur ein Viertel des Jahresbudgets durch staatliche Finanzierung abgedeckt, etwa zwei Drittel aller Kosten müssen durch Spenden aufgebracht werden. Ein schwieriges Unterfangen, sagt Anna Tardos:
"Wir kämpfen jedes Jahr aufs Neue um unser Überleben. Jede noch so kleine Spende ist willkommen ..."
Mehr dazu in Ö1 Programm
Buchtipp"
"Miteinander vertraut werden", Emmi Pikler, Anna Tardos (Hrsg.), Herder Verlag, ISBN 3451045370
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Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft