Arm, aber respektiert
Der Bauch des Ozeans
Halb Afrika träumt vom Paradies Europa. Warum so viele Afrikaner sich unter Lebensgefahren nach Europa aufmachen, und wieso sich der Mythos vom gelobten Land so hartnäckig hält, davon handelt der Debütroman der Senegalesin Fatou Diome.
8. April 2017, 21:58
Fortgehen, das ist der einzige Gedanke, der den jungen Senegalesen Madické beherrscht. Fort aus dem Dorf, über den Ozean in das Land, wo man fürs Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt bezieht, wo das Gras so viel grüner ist, wo schon Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum dass sie auf der Welt sind, einen Karriereplan.
"Wer sich dieser Sehnsucht in den Weg stellt, ist verflucht", beschließt Madické. Aber, Salie, seine große Schwester in Frankreich, belehrt ihn eines Besseren. Salie ist das Alter Ego der 36-jährigen Fatou Diome, die mit ihrem Erstlingsroman "Der Bauch des Ozeans" genau das tut: sich dieser afrikanischen Sehnsucht nach Europa in den Weg zu stellen.
Zu Hause dann der "petit bourgeois"
"Die Wahrheit ist, die Leute müssen manchmal fünf oder zehn Jahre sparen, bis sie sich eine Reise nach Hause leisten können. Dann geben sie für zwei Wochen in ihrem Dorf den 'petit bourgeois'", erzählt Fatou Diome. "Aber in Europa sind sie arme kleine Handlanger, die im Dreck leben. Es war mir wichtig, den Afrikanern zu sagen, dass es ja nicht darum gehen kann, nach Europa zu kommen, um ein miserables Leben zu führen. Dann ist es doch besser zu bleiben, zwar arm, aber respektiert."
Die mocca-schwarze Frau mit der Löwenmähne aus strohhalmdünnen Zöpfchen lebt seit zehn Jahren in Straßburg, unterrichtet Literatur an der dortigen Universität und schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit über den senegalesischen Filmemacher und Schriftsteller Sembene Ousmane. Sie hat es geschafft. Aber auf eine Fatou Diome kommen Tausende Afrikanerinnen, die hier im Elend leben, sagt sie.
Überall unerwünscht
In ihrem Roman erzählt sie auch von diesen Menschen. Z.B. von Moussa, dem Fußballtalent, der von einem Agenten in ein französisches Trainingscamp mitgenommen wird und nach ein paar Wochen seine Abschiebepapiere bekommt. Wieder zu Hause, kann er die Verachtung seiner Familie nicht lange ertragen. Er wählt den "bitteren Bauch des Ozeans" als letzte Zuflucht.
Oder Sankèle, die gerade 17 ist, als ihr Vater und die Onkels sie an einen alten Mann, einen Heimkehrer aus Frankreich, verheiraten wollen. Sie flieht auf einer Barke übers Meer und keiner hört je wieder von ihr. Auch Fatou Diome blickt auf eine harte Zeit in ihrer islamisch geprägten Heimat zurück:
"Ich war ein uneheliches Kind", erzählt sie. "Man hat meine Mutter dafür büßen lassen. Sie wollte dann nichts mit mir zu tun haben, mein Vater ebenso. Als ich dann nach Europa kam und den Rassismus hier erlebte, sagte ich mir: O.K. Hier weisen sie dich nicht zurück, weil du ein Mädchen bist und unehelich. Hier bist du unerwünscht wegen deiner Hautfarbe. Für mich war das kein großer Unterschied zu meiner Erfahrung in Afrika."
Papier ist tolerant
Afrika ist der Kontinent der Oralität. Niemand in Fatou Diomes Familie kann lesen und schreiben. Wie kam es, dass Fatou Diome die Literatur für sich entdeckt hat?
"Ich liebte es, zu lesen", erzählt Diome. "Als ich las, wuchs in mir das Bedürfnis zu sprechen und Fragen zu stellen. Da sich aber niemand dafür interessierte, was ich zu sagen hatte, blieb mir nur eine Wahl: Ich fing an zu schreiben. Papier ist tolerant. Ihm war es egal, dass es von einem unehelichen Mädchen beschrieben wurde."
Für die Freiheit
Der Argentinier Jorge Luis Borges hat einmal gesagt: Lesen ist Denken mit fremden Gehirnen. Für aufklärerische Romane wie den von Fatou Diome stimmt das im besonderen Maße. Wir Europäer lernen von der Senegalesin, dass manche von weit her zu uns kommen, weil sie - wie Fatou Diome - die Freiheit brauchen, die unser Kontinent bietet. Und ihre Landsleute ruft sie auf, ihr Leben nicht an Träume zu verschwenden und die eigenen Potenziale zu erkennen.
Service
Fatou Diome, "Der Bauch des Ozeans", Aus dem Französischen von Brigitte Große, Diogenes Verlag, ISBN 3257064454