Klingende Mythen eines alten Instruments

Was die Orgelkunst zu bieten hat

Die Orgel, ein Instrument mit langer Geschichte, hat natürlich auch die Wechselwirkungen der Musikgeschichte erlebt. Das Konzert aus dem "Jeunesse"-Zyklus "Orgelwelten", das Ö1 sendet, zeigt, welcher Reichtum an Formen, Farben und Kontrasten zu entdecken ist.

Musikstücke können Mythen bilden. Meistens ist das ein Zeichen ihrer besonderen Wirkung und Ausdruckskraft. Mit Bachs "Fantasie und Fuge in g-moll" BWV 542 verbindet sich die Geschichte über seine vergebliche Bewerbung um das Organistenamt an der Jacobikirche in Hamburg. Bach habe - so wurde erzählt - dieses Stück beim Probespiel vorgetragen.

Damit habe er seine hervorragende Spieltechnik, seine grenzenlose kompositorische Phantasie dokumentieren und gleichzeitig eine Hommage an den in Hamburg ansässigen alten holländischen Orgelmeister Johann Adam Reincken richten können. Denn das Thema der Fuge sei - in seiner Urgestalt - ein holländisches Volkslied. Wissenschaftlich nachweisen konnte man diese Konstellation nicht, das ändert aber nichts daran, dass dieses Stück nun einmal "Legendäres" an sich hat.

Glanzstück von Bachs Kontrapunkt-Kunst

Im ersten Teil - also in der "Fantasie" - verwendet Bach - zur Untermauerung der geradezu suggestiven Rhetorik des Stücks - verschiedene Harmoniefolgen, die in ihrer Kühnheit im 18.Jahrhundert ohne Beispiel sind und geradezu visionär ins späte 19. Jahrhundert weisen. Die Fuge wiederum ist in ihrer Motorik und in ihrer plastischen Themenbildung eines der großen Glanzstücke der kontrapunktischen Kunst Johann Sebastian Bachs.

César Francks Orgel-Symphonien

In anderer Weise haben die letzten Orgel-Kompositionen César Francks Mythen gebildet, die drei "Choräle". Der Titel "Choral" ist eigentlich ein Understatement. Franck ist in diesen Stücken nicht weniger gelungen als eine geniale Synthese seiner persönlichen Ausdrucksmittel im Bereich der Orgelkomposition:

Da gibt es die neuen Errungenschaften der "symphonischen Orgelkunst", die Franck selbst auf den modernen Instrumenten seiner Zeit entwickelt hat, und da gibt es auch die traditionsverbundenen Elemente, die nicht zuletzt auch auf Johann Sebastian Bach zurückweisen. Somit sind die "Choräle" - als Quintessenz von Francks gesamtem Orgelschaffen - kompakte Orgel-Symphonien, die aber die alte Kunst der Passacaglia, der Fuge und der Choralbearbeitung, integrieren.

Klingende "Orgel-Mythen"

Und mit ihnen verbunden ist das Bild des alten, sterbenskranken Komponisten, der mühevoll und doch unermüdlich die Empore der Basilika St. Clotilde in Paris erklimmt. Dort steht noch heute "seine" Orgel, ein Meisterwerk des großen Aristide Cavaillé-Coll. Und auf ihr spielend habe der Komponist - so erzählt man - immer wieder die passenden Klangfarben, also die Orgelregister, für seine "Choräle" gesucht und erprobt.

Zahlreiche Facetten

Und die Duo-Besetzung Trompete und Orgel, die von Maurice André geradezu "geadelt" wurde, hat an sich schon viele Facetten. Johann Ludwig Krebs, ein Schüler Bachs, hat z. B. Choral-Bearbeitungen für Orgel mit obligatem Soloinstrument komponiert.

Dieses Instrument - in unserem Fall die Trompete - übernimmt hier die Aufgabe, die sonst einem Soloregister der Orgel zugeteilt ist, nämlich die Choralmelodie aus dem Stimmengewebe deutlich hervortreten zu lassen. Durch die solistische Trompete kann die Melodie noch mehr Kraft entfalten und selbständiger gestaltet werden.

Szymanskis "Et expecto resurrectionem"

Krysztof Lukas, dem Organisten dieses Abends, war es ein besonderes Anliegen, den polnischen Komponisten und Organisten Wladyslaw Szymanski in Österreich vorzustellen. Über das Stück des Konzertes hat er folgende Informationen übermittelt:

"'Et expecto resurrectionem' ist der dritte Teil des Zyklus über das apostolische Glaubensbekenntnis. Das Stück wurde 1988 komponiert und ist durch die besondere Atmosphäre der polnischen Tradition des Feiertages Allerheiligen inspiriert. Der Anfang mit Flöte 2` solo soll das Licht der vielen Kerzen auf den Friedhöfen symbolisieren. Im weiteren Verlauf wird die Szene eines Friedhofs mit zahlreichen brennenden Kerzen - aus der Distanz betrachtet - gezeichnet. Das Stück steht für die menschliche Sehnsucht nach dem ewigen Leben."