Im Zeichen von Postfordismus und Globalisierung
Schrumpfende Städte
Das Buch zum Forschungs- und Ausstellungsprojekt "Schrumpfende Städte" dokumentiert den Zustand von vier Großstädten und vier exemplarische Phänomene: aufgegebene Stadtteile, hohle Industrieruinen und die Folgen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Vandalismus.
8. April 2017, 21:58
Der Rap-Musiker Nasir Jones aus Queensbridge zeigt sich auf den Covers seiner LPs vor urbanen Ruinen, ein Detroiter Techno-Sampler wirbt mit der heruntergekommenen Front eines ehemaligen Ladenlokals, und der House-Musiker Terence Parker verbindet den LP-Titel "Detroit after Dark" mit dem Bild eines brennenden Benzinkanisters. Diese Inszenierungen sind nicht gekünstelte Erfindungen sondern Realität, vor allem in der ehemaligen Autostadt Detroit.
Zwischen 1940 und 2000 hat sich die Einwohnerzahl halbiert, die halbe Stadt ist eine Brache. Die Nacht von Halloween heißt Devils Night, beworben von einem offiziellen Plakat der Stadt. Mittlerweile ist es eines der wichtigsten Touristenevents in Detroit geworden, wenn in dieser Nacht Hunderte Bewohner ihre Häuser abfackeln, um an die Versicherungssumme zu kommen.
Spannende Phänomenologie
Die Direktorin der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, Barbara Steiner, ist eine der KuratorInnen des Forschungs- und Ausstellungsprojekts "Schrumpfende Städte". Die Kulturstiftung des Bundes, der Auftraggeber, hatte lange Zeit ein Problem mit dem Titel des Projekts. "Schrumpfende Städte" sei so negativ besetzt, hieß es, aber wie könnte man aufgegebene Stadtteile, hohle Industrieruinen und die Folgen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Vandalismus noch positiv besetzen?
Die Lektüre dieses Buches führt aber keineswegs zur Depression, denn es ist eine spannende Phänomenologie der shrinking cities. Ein kurzweiliger Statistikteil leitet jedes der Städtebeispiele ein. Ausführliche Artikel zu Themen wie "Instabile Orte", "Psychogeografie der Angst" oder "Kulturelle Repräsentationen" folgen.
Rettung durch Kunst
Das letztgenannte Kapitel beschäftigt sich exemplarisch mit den künstlerischen Interventionen in schrumpfenden Städten. Der deutsche Musikjournalist Diedrich Diederichsen versammelt Plattencovers der letzten 30 Jahre, die mit dem Ruinenimage der Vorstädte arbeiten. Umfassende Fototeile dokumentieren den Verfall und seine Folgen, kommentieren aber auch mit den Augen junger Künstler gesehen.
Unterhaltsam: Urbane Landwirtschaft in Detroit, ein Kapuzinermönch baut auf verwahrlosten Grundstücken Gemüse an und gibt damit täglich 2.500 Essen an Obdachlose aus.
Abenteuerlich: Neue Sportarten entstehen in den Brachlandschaften wie z.B. X-Golfen. Vom Dach eines leer stehenden Hauses wird auf die Fensterscheiben verlassener Industriehallen geputtet.
Erfinderisch: Legionen von Scrappers schlachten die verlassenen Plattenbauten bis auf das letzte Kupferkabel aus.
Gegenstrategien entwickeln
Ziel des Auftraggebers ist es, Strategien für mittlerweile viele deutsche Orte zu entwickeln, die genauso von Phänomenen wie Suburbanisierung oder Deindustrialisierung betroffen sind.
Der New Yorker Rapper Kurtis Blow beschrieb schon 1983 in seinem Song "One-two-five" das Phänomen der shrinking cities: Du bist am Ende, du bis deprimiert, du hast kein Geld mehr, also spring ins Auto und verlass diesen Ort. Barbara Steiner und ihre Kollegen werden in drei Jahren das nächste Buch vorlegen und erzählen, was mit den Städten zu tun ist, die nicht nur von Kurtis Blow verlassen wurden.
Buch-Tipp
Philipp Oswalt, "Schrumpfende Städte", Verlag Hatje und Cantz, ISBN 3775714812