Sexualität im Christentum
Der vergiftete Eros
"Drei Dinge sind ein Vorgeschmack auf die kommende Welt: Sabbat, Sonne und Sexualität", sagt eine jüdische Lebensweisheit. Trotzdem hat sich bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus eine leibfeindliche und sexualitätsverachtende Geisteshaltung entwickelt.
8. April 2017, 21:58
Henri Boulad über Sex und Eros
Im Neuen Testament ist viel von Liebe, aber wenig von Sexualität die Rede. Es gibt kein Wort über vorehelichen Geschlechtsverkehr oder gegen Homosexualität, Masturbation oder Prostitution, es gibt keine überzeugende Basis für eine religiös fundierte Sexualmoral.
Dennoch entwickelte sich bereits in den ersten Jahrhunderten nach Christus eine leibfeindliche und sexualitätsverachtende Geisteshaltung, die bis in die Gegenwart zu wirkmächtigen negativen Folgen führte. Wie kam es dazu? Welche geistigen Strömungen stehen dahinter? Heißt christlich leben tatsächlich Lustfeindlichkeit und Sexualitätsverachtung?
Die Funktion des Eros
Musik, Text, Sprache und Bild sind seit Menschengedenken voll von Liebessehnsucht, Liebesbezeugungen und Liebesenttäuschung. Mit einem Wort die Menschheitsgeschichte, die immer als eine Geschichte der Gewalt beschrieben wurde, könnte genauso gut unter dem Blickpunkt des Eros beschrieben werden. Der ägyptische katholische Theologie und Jesuit Henri Boulad meint dazu:
"Eros hat eine bestimmte Funktion: die Liebe zu entflammen. Liebe ist das Ziel und das Wesen des Menschen. Wenn also Eros ein Weg ist, um tiefer und besser zu lieben, ist es ein Segen und etwas Heiliges. Eros ist also unverzichtbar für das Menschsein. Es kann zum Besten und zum Schlechtesten benutzt werden, so wie etwa Feuer. Wir können damit einen Herd und ein ganzes Haus erwärmen oder aber auch das ganze Haus in Brand stecken."
Wege der Verwirklichung
Nicht die Verleugnung des Sexuellen führt zur Erfüllung. Durch wechselseitige Verwandlungsprozesse werden der leibliche und der geistig-mystische zu ein- und demselben Eros. Dazu ist ein kontinuierlicher Prozess notwendig, auf dessen Weg man immer mehr menschlich wird, immer mehr persönlich wird, immer mehr leiblich und zugleich immer mehr spirituell. Boulad weiter:
"Es geht darum, dass der Mensch es erreicht, seine physischen und sexuellen Kräfte auf seinem geistig-spirituellen Weg zu Gott und zu den Menschen zu integrieren. Wem das gelingt, der hat seine Menschlichkeit verwirklicht."
Die körperfeindliche Tradition
Die katholische Theologin Regine Ammicht-Quinn von der Universität Tübingen macht darauf aufmerksam, dass es im Christentum viele verschiedene geistige Strömungen gibt und gegeben hat, die in Konkurrenz zueinander stehen:
"Eine dieser Traditionen ist eine körperfeindliche, die von einer Trennung von Körper und Seele ausgeht: Origenes Seele ist zur Bestrafung in den Körper gesperrt und mit dem Tod entlassen worden; daran knüpft sich eine Frömmigkeit an, die auf schrittweise Abtötung des Körpers setzt, um die Seele zu befördern."
Das große Missverständnis im Christentum
In seinem Buch "De principiis" beschreibt Origenes den Tod als "den Moment, in dem das menschliche Wesen all jenes seltsame Äußere ablegt, das es durch leidenschaftliche Neigungen angenommen hat". Und dieses seltsame Äußere ist "Geschlechtsverkehr, Empfängnis, Gebären, Unreinheit, Säugen, Nähren, Stuhlgang, graduelles Heranwachsen zu voller Größe, Fülle des Lebens, Alter, Krankheit und Tod".
Dieses neuplatonische Denken und seine Weltsicht waren prägend und führte - laut Ammicht-Quinn - zum großen tragischen Missverständnis des Christentums.
Der anthropologische Dualismus
Im Tod legt die Seele alles ab, auch den Tod selbst: Dieses Denken, das wir heute als anthropologischen Dualismus enttarnt haben, übte damals auf die Zeitgenossen eine ungeheure Faszination und befreiende Wirkung aus. Dieser Dualismus lehrt, dass es zwischen Körper und Seele einen Kriegszustand mit wechselseitigen Angriffen gibt. Askese und Lust ringen miteinander, und wer dabei siegt, ist bis zuletzt ungewiss. Das große Problem an dieser Grundhaltung ist, dass das körperliche Leben als lebenslange Freiheitsstrafe gilt, der materielle Leib ist Last , Bedrohung und Feindesland. Das Ich wird so zum Asylanten in der fremden Welt der Materie.
Und heute?
Die Verachtung der Leiblichkeit ist ein hoher Preis, der für die Befreiung der Seele gezahlt werden muss. Und dieses Denken erscheint uns heute in höchstem Maße fremd. Denn heute scheint der Körper im Gegensatz zu früher in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses gerückt zu sein. Regine Ammicht-Quinn dazu:
"Heute dient der Körper privat und beruflich häufig als Statussymbol. Wer erfolgreich sein will, muss den als verbindlich vorgestellten Körperbildern aus den Bereichen Mode, Werbung, Sport und Gesundheit nacheifern. Man trägt seinen Körper zu Markte. Jugend, Schönheit und Fitness sind die Insignien des postmodernen Körperkults, der nun - im Gegensatz zur Körperverachtung - die Befreiung der Seele verheißt. Dabei ist ein neuer Schritt in der Deutung der Körperlichkeit vollzogen worden, der aber Parallelen zur Leibverachtung aufweist."
Der reinkarnierte Körper
Hier wie dort ist der Körper schlecht, er muss kasteit und abgetötet werden, damit etwas anderes lebt. In der christlichen Tradition war das höhere Gut die Seele, heute ist es der neue Körper, der reinkarnierte Körper, an den sich Heilserwartungen richten. Er soll das gute Leben bringen:
"Aber gleichzeitig fängt das gute Leben nie an, weil ja der neue Körper nie den perfekten Endstatus erreicht und halten kann. Auch er wird einmal schwach, altert und stirbt."
Deswegen muss - so Regine Ammicht-Quinn - das Christentum heute radikal mit einer Verleugnung des Anfangs aufräumen.
Der neue Puritanismus
Im US-Magazin "Saturday Review" wurde kürzlich anhand von wissenschaftlichen Untersuchungen untermauert, dass der Mensch beim Sex eine Form der Zurückhaltung, der Askese finden muss. Es geht also nicht um die Frage "Ist man für Sex oder gegen Sex oder für oder gegen den Eros?", sondern um die Gesetze des Eros, damit er sich in seiner größten Möglichkeit entfalten kann, um lieben zu können, um Mensch zu werden und dem Partner die Menschwerdung zu ermöglichen, denn beim Sex sind wir nicht allein, sondern zu zweit. Und die wertvollste menschliche Ressource ist nicht Öl, Gold oder Geld, sondern Eros.
Ö1 Tipp
Am Samstag, dem 16. Oktober folgt in "Logos" der zweite Teil der Sendereihe "Brennpunkte des Lebens". In einer aktuellen Diskussionsrunde steht das aktuelle Thema "Sexueller Missbrauch und der Verlust des Vertrauens in der Kirche" auf dem Programm.
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.
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