Von der Nazivergangenheit eingeholt
Mein Jahr als Mörder
Friedrich Christian Delius beschäftigt sich in seinen Romanen oft mit den 50er und 60er Jahren. In seinem neuen Buch verwebt er die Studentenrevolte mit Geschehnissen aus der Nazizeit und entwickelt so das Schicksal der deutschen Familie Groscurth.
8. April 2017, 21:58
Es war an einem Nikolausabend in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden. Von einer Minute auf die andere war ich, wenn auch flatternden Leichtsinns, einverstanden. Eine feste männliche Stimme aus der Luft, dem unendlichen Äther, stiftete mich an, kein Teufel, kein Gott, sondern ein Nachrichtensprecher, der seine Meldungen ablas und, wie auf einer zweiten Tonspur, mir die Aufforderung ins Ohr blies, den Mörder R. zu ermorden.
Richter Rehse muss sterben
An einem Winterabend des Jahres 1968 beschließt ein Berliner Literaturstudent, einen Mord zu begehen. Das potenzielle Opfer ist niemand Geringerer als der Nazi-Richter Rehse, im Roman schlicht mit R. abgekürzt, der im Jahr 1943 den Arzt und Widerstandskämpfer Georg Groscurth zum Tode verurteilt hat. Der Erzähler ist mit Groscurths Sohn eng befreundet, und als er in den Radionachrichten hört, dass Rehse endgültig freigesprochen wurde, keimt in ihm der Entschluss, die Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen und den Richter umzubringen.
Ganz bewusst hat Friedrich Christian Delius in seinem Buch Fakten und Fiktion gemischt - und seinem Protagonisten auch einige autobiografische Züge verliehen, schließlich hat er die Familie Groscurth von Kindesbeinen an gekannt.
Das Doppelleben des Georg Groscurth
Delius berichtet, wie Georg Groscurth gemeinsam mit dem Pharmakologen Robert Havemann die Widerstandsbewegung "Europäische Union" gründet, wie Groscurth gleichzeitig als Leibarzt von Rudolf Hess in höchsten Parteikreisen verkehrt, wie die Gruppe schließlich auffliegt und ihre Mitglieder zum Tod verurteilt werden.
Und er schildert den Spießrutenlauf von Groscurths Witwe Anneliese, die in den 50er Jahren zwischen alle Fronten gerät, im Westen als kommunistische Aktivistin verdächtigt wird und sich in einer Unmenge von Prozessen vergeblich zu rechtfertigen versucht. All diese historischen Fakten verwebt Delius geschickt in einer Romanhandlung, in der er die ganze Düsternis der deutschen Nachkriegsgeschichte verarbeitet.
Zwischen Komik und Düsternis
Dabei lässt Delius seinen Protagonisten erfrischend respektlos über die geeigneten Mittel räsonieren, um den Richter ins Jenseits zu befördern, legt die Absurdität eines Systems offen, das die Witwe eines hingerichteten Widerstandskämpfers zur Feindfigur stempelt, spielt mit dem Kontrast zwischen Komik und Düsternis:
"Ich erlaube mir, bei jedem Thema, das, was an Absurdität in einem Thema steckt, auch mit den Mitteln des Humors zu beschreiben", erzählt Delius. "Der große Charlie Chaplin hat damit angefangen und das wird noch lange nicht aufhören."
Spannend, unterhaltend, interessant
Auch Delius' neuer Roman wirkt stellenweise wie eine Komödie vor einem dunklen Hintergrund. Der schreiberischen Finesse und der gründlichen Recherche des Autors ist es zu danken, dass dieser Balanceakt durchgehend gelungen ist. Und nicht nur das: 300 Seiten lang gelingt dem Autor das Kunststück, ein schwieriges Thema leicht zu präsentieren, die historischen Tatsachen geschickt mit den Elementen des Romans zu verknüpfen. Dabei schreibt Delius nicht belehrend und nicht moralisierend, sondern schlicht spannend, unterhaltend, interessant. Kein Wunder also, dass auch die Nachkommen der Familie Groscurth mit dem Ergebnis zufrieden sind.
Buch-Tipp
Friedrich Christian Delius, "Mein Jahr als Mörder", Rowohlt Berlin Verlag, ISBN 3871344583