Streifzug durch das 20. Jahrhundert
Eines Menschen Herz
William Boyds Roman erzählt virtuos in Form eines Tagebuchs die Lebensgeschichte, Geistes- und Herzensbildung des Logan Mountstuart als Tour de force durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Innenschau eines britischen Lebemannes.
8. April 2017, 21:58
Ihr Herz müssen Sie genauso sehen wie Ihr Gesicht. Es ist nicht mehr dasselbe Organ wie das, das Sie mit 18 hatten. Stellen Sie sich vor, dass alles, was mit Ihrem Gesicht passiert ist, auch mit Ihrem Herzen passiert ist.
Das teilt der Arzt in William Boyds neuem Roman "Eines Menschen Herz" dem Protagonisten gegen Ende seines Lebens und des Romans mit.
Fiktion versus Authentizität
Untrennbar verwoben mit der Biografie Logan Mountstuarts sind die zentralen Fragen nach dem Verhältnis von Fiktion, Faktizität und Authentizität, die schon in den Vorbemerkungen zu den "Intimen Tagebüchern des Logan Mountstuart" angedeutet werden. Auch formal variiert der Roman diese Themen in seiner Präsentation als authentisches Tagebuch, versehen mit dem kritischen Apparat an Fußnoten, Anmerkungen, Nachwort und Index inklusive einer Publikationsliste Mountstuarts. Im wechselvollen Leben dieses Weltbürgers manifestiert sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Wenn Weltgeschichte ins Leben eingreift
1906 als Sohn eines Briten und einer Urugayerin geboren, wird Mountstuart als Jugendlicher 1914, mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges, von Südamerika nach England kommen. Der mitunter zerstörerische und brutale Einbruch der Weltgeschichte in das Leben des Individuums ist damit ein zentrales Motiv des Romans.
In der Folge verschlägt es Mountstuart in den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg und an die Front des Biafrakrieges mit seinen Warlords. Wie auch nach London und Paris, in die Zentren des intellektuellen und künstlerischen Lebens der 20er und 30er Jahre. Hier wird er, eine Art Zelig der Literatur, von Evelyn Waugh geküsst, von Virginia Woolf geschnitten, darf mit Scott Fitzgerald anstoßen und mit Hemingway in Spanien Gemälde von Miro retten.
Spion, Zeitungsverkäufer, Schmuggler
Im Zweiten Weltkrieg wird er Spion der Royal Navy unter dem später berühmt gewordenen Ian Fleming, und man ist versucht, in der Romanfigur des Peter Scabius, eines zweitklassigen Romanciers, einen ironischen Verweis auf diesen zu sehen. In den 70ern nimmt Mountstuart seine Agententätigkeit als Zeitungsverkäufer und Schmuggler wieder auf. Diesmal für eine britische Stadtguerillagruppe im Dunstkreis der deutschen RAF. Seinen Lebensabend verbringt er in einer baufälligen Maison de maître in Südfrankreich.
Der am Ende des Lebens verfassten Rückblicken inhärenten Gefahr versöhnlicher Lebens- bzw. Altersweisheiten entgeht Boyd souverän einerseits durch die Selbstironie seines Protagonisten Mountstuart, andererseits durch den Einbruch der Geschichte französischer Kollaboration während des Nationalsozialismus in die ländliche Idylle.
Höhepunkt einer Trilogie
Wie steht es nun aber mit dem Verhältnis von Fiktion und Faktizität in diesem Roman, wie wahrhaftig ist die Figur des Logan Gonzago Mountstuart? In der Tat ist dieser Logan Mountstuart gänzlich literarische Fiktion, seine in "Eines Menschen Herz" publizierten "Intimen Tagebücher" bilden den literarischen Höhepunkt der Trilogie des Booker-Prize-Trägers William Boyd: Auf die fiktive Autobiografie John James Todds in "Die neuen Konfessionen", folgte die Lebensgeschichte des ebenfalls fiktiven Malers Nat Tate, der uns in diesem Roman erneut begegnet.
Ein reicher Roman - reich an Geschichte und Geschichten, an dessen Ende man gemeinsam mit dem mal mehr, mal weniger sympathischen Protagonisten gern das Glas erhebt:
Was für eine Zeit - quel parcours, wie der Franzose sagt. Ich glaube, darauf muss ich das Glas erheben. ... Auf jedes Jahrzehnt. Auf die Höhen und die Tiefen. Meine private Achterbahn. Nein, eine Achterbahn, das wäre zu glatt - eher ein Yo-Yo, ein hüpfendes, trudelndes Spielzeug in der Hand eines ungeschickten Kindes, eines Kindes etwa, das zu eifrig, zu ungeduldig versucht, es zu lenken.
Buch-Tipp
William Boyd, "Eines Menschen Herz", aus dem Englischen übersetzt von Chris Hirte, Hanser Verlag, ISBN 3446205659