Dunkelzonen des Rechts in Demokratien

Ausnahmezustand

Giorgio Agambens Buch über den Ausnahmezustand ist schwere Kost: Es zerstört die lieb gewonnene Illusion, dass Demokratie und Grundrechte etwas Selbstverständliches seien und es schärft das Bewusstsein für den Erosionsprozess, dem sie aktuell ausgesetzt sind.

Am Vormittag des 11. September 2001 unterbrachen die amerikanischen Fernsehsender ihr normales Programm, und sie sollten es an diesem 11. September und an den Tagen danach nicht wieder aufnehmen. Amerika befand sich damals im Ausnahmezustand und im Grunde hat es bis heute nicht zur Normalität zurückgefunden. Giorgio Agamben lässt am Beginn seines Buches über den "Ausnahmezustand" diese jüngste Vergangenheit kurz Revue passieren. Er nennt dabei ein wenig bekanntes, gleichwohl aber einschneidendes Datum: den 13. November 2001. An diesem Tag erließ der Präsident der Vereinigten Staaten eine "military order", der zufolge über Terrorverdächtige, die keine US-Staatsbürger sind, eine "unbeschränkte Haft" verhängt werden kann.

Schon der USA Patriot Act vom 26. Oktober 2001 hatte den Attorney general ermächtigt, jeden Fremden "in Gewahrsam zu nehmen", der im Verdacht steht, die nationale Sicherheit zu gefährden. Doch musste dieser Fremde innerhalb von sieben Tagen ausgewiesen oder angeklagt werden, das Einwanderungsgesetz verletzt bzw. ein anderes Delikt begangen zu haben. Das Neue an der "Anordnung" von Präsident Bush ist, dass sie den rechtlichen Status dieser Individuen radikal auslöscht und damit gleichzeitig Wesen hervorbringt, die juristisch weder eingeordnet noch benannt werden können.

Belagerungszustand oder Not-Stand

Diese rechtshistorisch beispiellose Anordnung, mit der die juristische Grundlage für Guantanamo geschaffen wurde, nimmt Giorgio Agamben zum Ausgangspunkt für seine grundlegende Analyse. Zunächst definiert Agamben den Ausnahmezustand als ein "kohärentes Ensemble von rechtlichen Phänomenen an der Grenze zwischen Recht und Politik". In der Folge nimmt Agamben eine historische, rechtsphilosophische und ideengeschichtliche Analyse des Ausnahmezustandot-stands vor. Er spannt dabei einen weiten Bogen von Augustus über Dante und Max Weber bis zu Derrida.

Viel Platz räumt Agamben einer Klärung des Begriffs "Ausnahmezustand" ein: Im Italienischen heißt er "stato di assedio" und im Französischen "état de siège", was auf eine der Wurzeln des Begriffs im Belagerungszustand verweist. In der angelsächsischen Rechtslehre herrscht hingegen der militärisch konnotierte Terminus "martial law" vor, also Kriegsrecht. Im Deutschen wiederum wird häufig auch der Begriff des "Notstands" verwendet, also ein Zustand großer Not, der not-wendig eigenes Recht mit sich bringt.

Unangenehme Fakten

Agamben macht auf ein paar unangenehme Fakten aufmerksam bzw. ruft diese nachdrücklich in Erinnerung: So etwa die Inhaftierung von Zehntausenden amerikanischen Staatsbürgern japanischer Herkunft nach Pearl Harbour. Weniger bekannt dürfte sein, dass der "New Deal" in den 1930er Jahren dem US-Präsidenten aus verfassungsrechtlicher Sicht nahezu unbegrenzte Macht über die Wirtschaft des Landes verlieh. Und auch darauf macht Agamben in seiner Abhandlung aufmerksam:

In der modernen Publizistik ist es üblich, die aus der Krise der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen modernen totalitären Staaten als Diktaturen zu bezeichnen. So werden Hitler und Mussolini, Franco wie Stalin gleichermaßen als Diktatoren präsentiert. Aber weder Mussolini noch Hitler können technisch gesehen als Diktatoren bezeichnet werden. Mussolini war der rechtmäßig vom König mit der Regierung beauftragte Regierungschef, wie Hitler der vom Reichspräsidenten ernannte Reichskanzler war.

Inhaltlich sehr dicht

Die Weimarer Republik glitt langsam, aber beständig von der Demokratie in die Diktatur. Agamben geht es bei diesem Hinweis allerdings nicht um eine polemische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Faschismus mit der Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten, wie wir sie gegenwärtig erleben. Seine Studie über den Ausnahmezustand ist im Gegenteil über weite Strecken eine trockene und leidenschaftslose Darstellung von Fakten und geschichtlichen Zusammenhängen.

Mit knapp 100 Seiten ist das Buch recht schmal, aber inhaltlich sehr dicht und gespickt mit Fußnoten und Exkursen. Agamben nimmt sich dabei zurück, kommentiert nur spärlich. Nur an wenigen Stellen, vor allem gegen Ende seiner Ausführungen, gestattet er sich auch kritische Schlussfolgerungen und Anmerkungen, die allesamt die unmittelbare Gegenwart betreffen.

"Ausnahmezustand" ist ein beunruhigendes und aufrüttelndes Buch zugleich. Und es ist ein Buch, das gerade zur rechten Zeit kommt, zu einer Zeit nämlich, in der die Gefahr besteht, dass die Ausnahme zur Regel und der Ausnahmezustand zum Dauerzustand wird.

Buch-Tipp
Giorgio Agamben, "Ausnahmezustand", aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll, Edition Suhrkamp, ISBN: 3518123661