Nichts für zart besaitete Gemüter

Das antike Olympia

In seiner lesenwerten Kulturgeschichte der olympischen Spiele des Altertums lässt der Würzburger Archäologie-Professor Ulrich Sinn erfrischend anschaulich die olympischen Spiele des Altertums, ohne dass er die gesicherten Pfade der empirischen Wissenschaft je verließe.

Olympia war nichts für schwache Nerven. Schon gar nicht die Faustkampfbewerbe: Nur die härtesten Fighter aus Sparta, Theben oder Halikarnassos hatten eine Chance auf den Ölzweig des Siegers. Tausende Fans feuerten die Kontrahenten an, sie grölten, klatschten und jubelten ihren Idolen zu.

Und die Kämpfer selbst? Die waren harte Hunde, Mike Tysons der Antike. Sie umwickelten ihre Fäuste mit ledernen Riemen, was weniger den Zweck hatte, die eigenen Handgelenke zu schützen, als vielmehr der Haut des Gegners blutige Wunden zu schlagen.

Königsdisziplin Fünfkampf

Als Projektionsfläche für neuzeitliche Idealisierungen taugen die Spiele im Zeus-Heiligtum nur bedingt, macht Ulrich Sinn in seinem Buch deutlich. Ein Kampfsport wie "Pankration" zum Beispiel stellte die Gewaltexzesse des Boxens fast noch in den Schatten. Pankration muss man sich als brutale Mischung aus Boxen und Ringen vorstellen - eine wüste Schlägerei, bei der außer Augenauskratzen so gut wie alles erlaubt war, auch Tritte gegen die Hoden.

Die Zahl der olympischen Disziplinen war damals durchaus überschaubar. Während in Athen 2004 Hunderte von Entscheidungen auf dem Programm stehen, von Badminton bis Taekwondo, fand man im alten Olympia mit einigen wenigen Sportarten das Auslangen: Neben einigen Reitsport- und Kampfsportbewerben waren das ausschließlich leichtathletische Disziplinen: drei Laufwettbewerbe, sowie der Pentathlon, der olympische Fünfkampf, die Königsdisziplin. Der Fünfkampf bestand aus Speerwurf, Diskuswurf, Weitsprung, Laufen und Ringen, wobei die einzelnen Disziplinen der heutigen Forschung durchaus noch Rätsel aufgeben.

Fünf Tage Kult

Fünf Tage dauerten die kultischen Spiele in Olympia. Man muss sich die Wettkämpfe als spektakuläre Mischung aus Sportevent, Open-Air-Festival und religiöser Zeremonie vorstellen. 50.000 bis 60.000 Besucher strömten auf dem Höhepunkt des olympischen Friedens in das Zeus-Heiligtum am Westrand des Peloponnes zum großen Festival der Körper und der Musen. Die logistischen Probleme waren beträchtlich: Die Besuchermassen mussten verköstigt und untergebracht werden, was mittels Zelten bewerkstelligt wurde.

Das Toiletten-Problem wurde erfrischend unbürokratisch gelöst: Es gab schlicht und einfach keine Toiletten. Binnen weniger Stunden mutierten die Pinienwälder rund um das Heiligtum zum stinkenden Massenlokus. Erst die Römer bauten Toiletten ein - auch das waren freilich nur Donnerbalken für jeweils ein Dutzend Benützer.

Sport-Star Milon aus Kroton

Die Olympia-Aficionados kümmerte derartige Unbill wenig. Sie ergötzten sich an den Spielen, lauschten den Dichtern in der Palästra, jubelten ihren Idolen im Stadion zu. Einer der legendärsten Athleten in der 1200-jährigen Geschichte der olympischen Spiele war Milon aus Kroton: 24 Jahre lang dominierte er die Ringentscheidungen in Olympia, zuerst in der Knaben-, dann in der Erwachsenenklasse.

Man muss sich Milon wohl als eine Mischung aus Muhammed Ali, Hermann Maier und Johannes Paul II. vorstellen. Angeblich konnte der umjubelte Champ ein Stirnband allein durch Anschwellen seiner Kopfvenen sprengen - ein Kunststück, das von Hermann Maier bislang nicht überliefert ist.

Von wegen Amateure

Eine kritische Analyse der olympischen Siegerlisten ergibt, dass der antike Spitzensport in den ersten Jahrhunderten so gut wie ausschließlich eine Sache des Adels war. Gutsbesitzer und Burgherren belegten regelmäßig die vordersten Plätze. Nur sie hatten die Muße, sich monatelang auf die Wettkämpfe vorzubereiten. Erst durch das ruhmreiche Athen, mit 200.000 Einwohnern die größte Polis des Landes, öffneten sich die Spiele auch für Bauern und Bürger.

594 v. Chr. wagte die Stadt ein welthistorisches Experiment: Sie führte die Demokratie ein. Bald gingen die Stadtväter auch sportpolitisch in die Offensive: Für jeden Athener, der bei den olympischen Spielen den Ölzweig des Siegers errang, lobten sie ein Preisgeld von 500 Drachmen aus, immerhin den Gegenwert von 500 Schafen.

Ende dank christlicher Prüderie

1200 Jahre lang flogen im heiligen Hain die Speere, dann machten die Christen dem Festival der Körper ein Ende. Es war Roms frommer Kaiser Theodosius, der sich ab 390 n. Chr. bemühte, den heidnischen Muskelkult zu verbieten. Unter seinem Nachfolger Theodosius II. legten die Olympia-Priester dann ihre Ämter vollständig nieder, wie Ulrich Sinn in seinem Buch darlegt.

Die Christen verachteten den menschlichen Körper als "Höllenpforte". Er sei, so der Apostel Paulus, "ein Todesleib" - kein Wunder, dass der Massenaufmarsch nackter Athleten die Christusjünger schockierte. Zu Beginn des fünften Jahrhunderts war es mit der olympischen Herrlichkeit vorbei - ein dunkleres, prüderes Zeitalter brach an.

Fazit: Ulrich Sinn hat ein spannendes, ein fundiertes Olympia-Buch vorgelegt. Unter den zahlreichen Neuerscheinungen zum Thema sicher die empfehlenswerteste.

Buch-Tipp
Ulrich Sinn, "Das antike Olympia - Götter, Spiel und Kunst", Verlag C.H. Beck, ISBN: 3406515584

Link
Athen 2004