Die dritte Generation
Schweigen die Täter, reden die Enkel
"Ich würde gerne ein biografisches Referat zu einem NS-Verbrecher machen." "Ja, und an welche Person denken Sie?" "Alois Brunner." "Aha. Gut, in Ordnung. Und wie ist Ihr Name?" "Claudia Brunner." (Im Hörsaal hätte man eine Stecknadel fallen gehört.)
8. April 2017, 21:58
Für Claudia Brunner war die sich selbst gestellte Aufgabe keineswegs leicht zu erfüllen.
Ganz bewusst hat Claudia Brunner im März 1999 für ihr Referat an der Universität Alois Brunner gewählt, ihren Großonkel. Ein erster Schritt in ihrer persönlichen Aufarbeitung eines dunklen Kapitels in der Familiengeschichte.
Als rechte Hand von Adolf Eichmann, dem Leiter der "Zentralstelle für jüdische Auswanderung", der die so genannte Endlösung durchführte, ist Alois Brunner für die Ermordung von 130.000 Juden verantwortlich. Alois Brunner organisiert und perfektioniert die Deportationen von Juden und deren Enteignung.
In Damaskus untergetaucht
Die Spur seiner Verbrechen zieht sich von Wien über Berlin, Saloniki, Südfrankreich, bis in die Slowakei. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs gelingt es ihm, sich der Gerechtigkeit zu entziehen und in Syrien unterzutauchen. Jahrelang lebt er unter falschem Namen in Damaskus.
Und heute? Ist der 1912 Geborene noch am Leben? Wo ist er? Sie wisse es nicht, meint Claudia Brunner, die in ihrem Buch ausführlich über ihre Angst vor dem Kontakt mit Journalisten und dieser immergleichen ersten Frage schreibt. Trotzdem hat sie mit diesem - überaus persönlichen - Buch von sich aus den Schritt an die Öffentlichkeit getan. Schreiben als Therapie, um mit den Schuldgefühlen fertig zu werden, die die Beschäftigung mit einem Naziverbrecher innerhalb der eigenen Familie mit sich bringt.
Aufarbeitung contra Familien-Loyalität
Mit Co-Autor Uwe von Seltmann hat Claudia Brunner vor drei Jahren einen gefunden, der ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie sie. Sein Großvater Lothar von Seltmann war unter anderem als Angehöriger der Waffen-SS an der brutalen Niederschlagung des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt.
Die Auseinandersetzung mit dem Großonkel führt Claudia Brunner 2001 nach Paris, wo Alois Brunner in Abwesenheit der Prozess gemacht wird. Claudias Schilderung dessen, wie sie diesen Prozess erlebt, gehört zu den stärksten Passagen ihres Textes. Sie wird mit dem Schmerz der Angehörigen der Opfer konfrontiert, mit der moralischen Komponente eines solchen Verfahrens als Mittel gegen das Vergessen.
Gleichzeitig wird auch die Loyalität zur eigenen Familie in Frage gestellt. Im Mittelpunkt dieses Konflikts steht dabei ein längerer Briefwechsel zwischen Claudias Vater und Alois Brunner. Zur Deckadresse in Damaskus sei ihr Vater durch einen Bericht in der Illustrierten BUNTE 1985 gekommen. Claudia Brunner hat lange überlegt, ob sie die Geschichte mit den Briefen auch im Buch erwähnen sollte, sagt sie.
Das Schweigen der Täter durchbrechen
Als eine Erweiterung der Tabuzone des Alois Brunner sieht Claudia Brunner dessen Tochter, die sie daher noch nie kontaktiert hat. Mit dem Großonkel selbst Kontakt aufzunehmen, habe sie sich in ihrer Phantasie schon vorgestellt. Aber was dann? "Wenn ich ihn treffe, beschimpf ich ihn?", fragt sie sich.
Derzeit habe sie ein mulmiges Gefühl, erzählt die junge Frau, wegen der Veröffentlichung des doch sehr intimen Textes und wegen der Reaktionen, die da noch kommen könnten. So wie auch Uwe von Seltmann wünscht sie sich, dass das Buch vielleicht auch andere Enkel dazu motivieren könnte, das Schweigen der Täter zu durchbrechen und in ihrer Familie nachzufragen. Als einen Schritt wider das Vergessen. Damit könnte ein neues Kapitel im Umgang mit der NS-Vergangenheit aufgeschlagen werden.
Buch-Tipp
Claudia Brunner, Uwe von Seltmann, "Schweigen die Täter, reden die Enkel", Büchergilde Gutenberg, ISBN 3936428263
Link
Lebenslauf Alois Brunner