Emotionale Töne

Da zieht's mir eine Gans'lhaut auf

Sie hören mit Hingabe einer Musik zu. Ganz in sich gekehrt, die Augen vielleicht geschlossen. Und plötzlich passiert da etwas in der Musik. Wie aus dem Nichts heraus zieht ein kalter Schauer über Ihren Rücken, kriecht hinauf zur Kopfhaut, sorgt für Gänsehaut. Wie geht das?

In einer Studie haben 80 Prozent der befragten Personen erzählt, dass sie beim Hören von Musik zeitweise folgende Erscheinungen an sich beobachtet haben: Schauer, der über den Rücken läuft, Lachen, Kloß im Hals, Tränen, Gänsehaut, Herzjagen, Gähnen und Gefühle in der Magengrube. Aber was ist für die Cutis anserina, die Gänsehaut beim Musikhören verantwortlich?

Gänsehaut made by a-moll

Am Anfang steht der Schall. Er gelangt ins Ohr und wird in Form elektrischer Impulse ins Gehirn weiter geleitet. Das ist dann der eigentliche Konzertsaal. Erst in unserem Kopf entsteht das musikalische Erlebnis. Und ruft unterschiedliche Gefühle hervor. Das liegt zum einen an der Situation, in der die Musik gehört wird. Wer im Stress ist, der pfeift auf schöne Töne. Zum anderen spielt die bisherige musikalische Erfahrung eine wesentliche Rolle. Einen gemeinsamen Nenner gibt es nicht. Mit Ausnahmen: der größte Teil der Menschheit liebt einfache Intervalle wie Oktav, Quint oder die Terz, wie sie in Kinderliedern und in den Schlachtgesängen von Fußballfans vorkommt. Das wirkt sogar kulturübergreifend.

Andere Länder, andere Töne

Aber das war es auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Musik ist keine universale Sprache, das haben Musikethnologen herausgefunden. Zu unterschiedlich sind die musikalischen Elemente und Regeln zwischen den Kulturen. Als Beispiel: Nur etwa die Hälfte von Menschen aus fremden Kulturkreisen meint, dass unsere Kinderlieder kindgerecht sind.

Wenn Musik Gänsehaut erzeugt, dann reicht dazu oft nur eine winzige musikalische Überraschung. Unsere Erwartungshaltung wird einfach nicht erfüllt. Was immer es ist: eine unerwartete Harmonie, eine neue Klangfarbe, oder ein ganz besonderer Ton. Eine musikalische Veränderung, die über das Vorher und das Nachher noch lange hinaus wirkt, die lässt uns von einer schönen Stelle in der Musik schwärmen. Und zaubert Gänsehaut auf unsere Haut. Doch eine schöne Stelle ergibt sich zwangsläufig erst aus dem Gesamtkontext der Musik. Löst man sie heraus, so wirkt sie leblos.

Multipler Hautorgasmus

Aber wie ergeht es den Musikern beim Musizieren? Wer ein Instrument spielt, singt oder dirigiert, den packt die schöne Erregung viel heftiger als nur beim Zuhören. An Herbert von Karajan wurden vegetative Körperreaktionen gemessen, die sogar stärker waren als bei riskanten Manövern des Dirigenten am Steuer seines Privatjets. Und das nur während des Dirigierens der Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 an ganz bestimmten Stellen. Den Stellen, die ihn besonders berührten.

Das Leben als Musiker erfordert allerdings einen hohen Preis. Täglich heißt es "Üben, üben, üben", eine Folter für viele Kinder. Unwillige Finger müssen in unbequeme Positionen gebogen werden, der Körper schmerzt aufgrund der unnatürlichen Körperhaltung. Wenn da nicht die Fähigkeit wäre, sich selbst für die Qualen zu belohnen.

Aktives Musizieren sorgt für eine enorme Ausschüttung von Glückshormonen im Körper, den Endorphinen. Diese körpereigenen Drogen verschaffen dem Musikanten Glücksgefühle in einem Ausmaß, wie es sonst nur Sex hervorruft. Die musikinduzierte Gänsehaut: Neurologen sprechen von einem "Hautorgasmus".

Dreimal Mozart täglich

Manche Forscher gehen noch weiter. Sie sprechen Musik sogar große Heilkraft zu. Denn Musik synchronisiert die Atmung, lenkt von Schmerzen ab, und fördert die Immunreaktion. Das will eine amerikanische Musiktherapeutin bei Kindern herausgefunden haben. An manchen Spitälern wird den Patienten vor und während einer Operation ein Musikprogramm vorgespielt, das genau auf den jeweiligen Patienten abgestimmt ist. Etwa die Hälfte der Patienten benötigt dadurch weniger Beruhigungsmittel vor dem Eingriff.

Egal wie: Musik wirkt immer. Und immer auf eine ganz individuelle Art. Der Komponist Wolfgang Rihm spricht von einem seltsamen Lustpotential, das durch die schönen Stellen in der Musik aufgeschlossen wird. Er schreibt: "Das Potential aber liegt in uns, nicht in der Musik. Diese geht ungerührt weiter. Sie kennt keinen Aufenthalt. Und schon gar keine Stellen."

Schön. Aber bei welchen Stellen bekommen Sie eine Gänsehaut?