Eine Kleinstadt im Nirgendwo
Jesus von Texas
Nach einer Schießerei in einer High School in Texas: Man braucht einen Schuldigen und so wird ein 15-Jähriger, ein Außenseiter, in die Sache hineingezogen. DBC Pierre erzählt aus der Sicht seiner Hauptfigur - spannend und durchaus unterhaltend.
8. April 2017, 21:58
Zunächst ist alles sehr unklar. Fest steht nur, dass da ein Halbwüchsiger den Vormittag, statt in der Schule, auf der Polizei verbringt. Wir befinden uns in Texas, in einer Kleinstadt mit dem schönen Namen Martirio. In dem friedlichen Nest muss etwas Schreckliches passiert sein. Wenn dieser Junge doch Klartext reden würde! Denn so viel wird bald klar: Er weiß sicher mehr, als er sagt.
Außenseiter Vernon Little
DBC Pierre erzählt aus der Sicht seiner Hauptfigur Vernon Little. Ein pubertierender, etwas vernachlässigter Außenseiter, ein im Grunde sensibler und intelligenter Jugendlicher, der irgendwie in eine Geschichte geraten ist, die er nicht mehr überblickt, und die ihn, in einem Staat wie Texas, das Leben kosten kann.
Wie schuld ist Vernon Little wirklich? Was ist tatsächlich geschehen? Und warum spricht er nicht darüber? Aus diesen offenen Fragen entsteht Spannung, quälend langsam wird das Geschehene rekonstruiert. Das ist die kriminalistische Ebene.
Leben im Provinznest
"Jesus von Texas" ist jedoch zugleich ein Porträt der Umwelt des vermeintlichen Täters: einer öden Provinzstadt, die einem Heranwachsenden wenig Aufbauendes bieten kann.
Das war mal der zweithärteste Ort in Texas, nach Luling. Jeder, der in Luling verprügelt wurde, muss rüber nach Martirio gekrochen sein. Heutzutage ist das Härteste hier der Stau am Drive-in jede Samstagnacht.
Klatsch- und Neidgesellschaft
Zur Trostlosigkeit der äußeren Umgebung kommen die Menschen, die sie bevölkern: eine Klatsch- und Neidgesellschaft. Da sind die Freundinnen der Mutter, die sich hinter gespielter Anteilnahme gegenseitig auszustechen trachten. Und die größte Wunde in Vernons Leben: die Mutter selbst, die ihren Sohn hilflos an sich zu binden versucht und ihn unter dem Druck der öffentlichen Meinung ebenso hilflos preisgibt.
Merkt ihr, wie's läuft im Leben? Leute werden zu den finstersten Verbrechen oder in Krankheiten getrieben, und alles deshalb, weil jeder mal eben in ihrer Wunde rumstochern kann - eine kleine Bemerkung hier, ein paar Tränen dort, alles scheinbar ganz harmlos.
Verstrickungen und Abhängigkeiten
Und doch wird hier kein einfaches Opferschema entworfen. Eher ein kompliziertes Geflecht aus Verstrickungen und Abhängigkeiten, in dem viele so ihren Part spielen. Vernon erzählt mit einer lakonischen Selbstverständlichkeit, die klar macht, womit wir es zu tun haben: mit den alltäglichen Perversitäten in einer zutiefst widersprüchlichen Gesellschaft, wo die Grenze zwischen Normalität und Abweichung schwer zu ziehen ist und für einen 15-Jährigen in schwierigen Verhältnissen noch schwerer.
So langsam glaube ich, dass nur die Dummen sicher sind in dieser Welt, die mit der Herde trotten, ohne immer über alles nachzudenken. Ich dagegen muss mir über den kleinsten Scheiß Gedanken machen. Schaut mich doch nur an.
Die Scheinheiligkeit der Erwachsenenwelt
DBC Pierres große Stärke als Erzähler ist seine Darstellung mit den Worten und Gedanken seines Antihelden. Daraus entsteht nicht nur Tragik, sondern auch eine Menge origineller Beobachtungen und Komik. "Jesus von Texas" ist, wenn einen die derbe Sprache nicht stört, durchaus vergnüglich zu lesen.
Mit Mark Twains "Huckleberry Finn" und mit Jerome D. Salingers "Fänger im Roggen" sind "Jesus von Texas" und dessen jugendlicher Erzähler verglichen worden. So weit diese Hauptwerke der amerikanischen Jugendliteratur von DBC Pierres texanischer Kleinstadt und ihrem High-School-Massaker entfernt scheinen - da wie dort legt der scheinbar naive Blick eines Heranwachsenden die Scheinheiligkeit der Erwachsenen-Gesellschaft bloß. Doch deren dunkle Kehrseite, die ist offenbar seit den 1880er bzw. 1950er Jahren um einiges gewalttätiger geworden.
Buch-Tipp
DBC Pierre, Jesus von Texas, aus dem Englischen von Karsten Kredel, Aufbau-Verlag 2004. ISBN 3351029969
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