Das Pulverfass im Fernen Osten
Schauplatz Nordkorea
Bei Büchern von Auslandskorrespondenten ist Skepsis geboten: Nicht selten werden darin Reportagen recycelt und zusammenhanglos nebeneinander gestellt. Dieser Versuchung ist der ARD-Ostasienkorrespondent nicht erlegen, ganz im Gegenteil.
8. April 2017, 21:58
In zehn klar strukturierten Kapiteln beschreibt Martin Fritz auf 150 Seiten die aktuelle politische Situation Nordkoreas und analysiert den gegenwärtigen Atomkonflikt mit den USA. Ein Porträt des Diktators Kim Jong-Il und detaillierte Beobachtungen aus dem Alltag ergänzen die spannende politische Analyse.
Ein Toter als Präsident
Das Land der Morgenstille ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Es hat z. B. einen Toten als Staatsoberhaupt. Obwohl bereits 1994 verstorben, gilt Kim Il-Sung, der Vater des jetzigen Regierungschefs, weiterhin als Staatspräsident. Tausende Menschen pilgern täglich zu seinem Mausoleum. Dabei steht die gottgleiche Verehrung in starkem Gegensatz zu dem, was die Kim-Familie für die Menschen im Land geleistet hat.
1962 hatte der damalige Führer Kim Il-Sung dem Volk "fleischige Suppe und gekochten Reis" versprochen, aber daraus wurde nie etwas. Im Sommer 2002 senkte Nordkorea die tägliche Reisration von 300 auf 250 Gramm am Tag. (...) In den 90er Jahren starben Hunderttausende Koreaner an Unterernährung und Mangelkrankheiten. Die Schätzungen reichen bis zu 3,5 Millionen Toten in drei Jahren.
Acht Jahre Wehrdienst für Männer, sechs Jahre für Frauen
Für diese Misere verantwortlich ist einerseits die verfehlte Agrarpolitik und andererseits die schwache Wirtschaft. So hat Nordkorea während der Hungerkrise 40 Kampflugzeuge gekauft, und Mercedes in Stuttgart wunderte sich über die Bestellung von 200 Luxuslimousinen im Wert von 20 Millionen Dollar. Einen Großteil des Budgets verschlingt das Militär.
Weite Teile der Bevölkerung tragen Uniform. Auf 23 Millionen Einwohner kommen 850.000 Soldaten und 350.000 andere Sicherheitskräfte, dazu 1,7 Millionen Angehörige der "Roten Arbeiter- und Bauern-Garde" sowie der "Roten-Jugend-Garde". Sechs Millionen Nordkoreaner sind Reservisten. Alle Männer leisten acht Jahre Wehrdienst, viele Frauen sechs Jahre. Die Männer dürfen erst nach sechs Jahren das erste Mal nach Hause. Die Frauen dürfen in der Militärzeit keinen Sex haben und keine Ehe schließen.
Atombombe statt Wirtschaftsaufschwung
Wie ein roter Faden zieht sich die Darstellung des Atomprogramms und des Konflikts mit den USA durch das Buch. Als die langjährige Schutzmacht Sowjetunion 1990 Südkorea anerkennt und kurz darauf zerfällt, gerät das Sicherheitskonzept Nordkoreas ins Wanken. Das Land sieht keinen anderen Ausweg, als die Atombombe zu entwickeln und 1993 den Atomwaffensperrvertrag zu kündigen. 1994 verpflichtet sich Nordkorea in Genf, sein Atomwaffenprogramm einzustellen.
Kim Jong-Il war auf dem besten Weg, die außenpolitische Isolierung seines Landes zu überwinden, dessen Paria-Status abzuschütteln und sich frisches internationales Geld für seine bankrotte Wirtschaft zu verschaffen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erklärte Präsident Bush - wie sein Vater zehn Jahre zuvor - Nordkorea wieder zum Feind.
In der Not beißt die Maus die Katze
Nordkorea nimmt die Platzierung auf der "Achse des Bösen" zum willkommenen Anlass, wieder auf die bewährte Provokations- und Erpressungstaktik umzuschalten.
Statt mit Frieden zu locken, um an Geld zu kommen, drohte Nordkorea mit der Atombombe, frei nach dem koreanischen Sprichwort: In der Not beißt die Maus die Katze. Damit hatte Nordkorea sich letztlich genauso verhalten, wie man es in Washington erwartet hatte. Präsident Bush fühlte sich bestätigt.
Wehrhafter als der Irak
Eine Lösung des neuerlichen Atomkonflikts hängt entscheidend von der Haltung der Nachbarländer und der USA ab. Die USA würden Kim Jong-Il am liebsten stürzen wie Saddam Hussein, doch Nordkorea ist ein anderes Kaliber als der Irak.
Bis an die Zähne bewaffnet, im Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen, 11.000 unterirdische Geschützrohre auf die Millionenstadt Seoul gerichtet - und seit Jahrzehnten zum totalen Guerilla-Krieg bereit. Das Pentagon berechnete 1994, dass in den ersten 90 Tagen mehr als 50.000 Amerikaner und rund 500.000 Südkoreaner sterben würden.
Langsame Öffnung erwünscht
China und Südkorea möchten einen Umsturz in Nordkorea auf jeden Fall vermeiden und setzen auf eine langsame Öffnung des Landes, denn China befürchtet riesige Flüchtlingsströme und Südkorea könnte die finanzielle Last der Wiedervereinigung kaum tragen.
In einem politischen Witz heißt es folgerichtig: Was wird Südkorea machen, wenn Nordkorea zusammenbricht? An der innerkoreanischen Grenze Schilder aufstellen mit der Aufschrift: "Achtung: Hier beginnt Nordkorea - wegen Renovierung geschlossen."