Nacherzähltes Tagebuch

Das Buch des Vaters

50 Jahre lang schreibt Karl sein Tagebuch. Erst nach seinem Tod dürfen und sollen auch andere die Lebensaufzeichnungen lesen. Aber als Karl stirbt, wirft seine Witwe das Buch in den Müll. Also schreibt der Sohn, Urs Widmer, das Buch des Vaters nochmals.

Der Onkel hob ein schwarzes Tuch auf, das auf dem Altar lag, und holte darunter ein großes, ebenfalls schwarzes Buch hervor, einen regelrechten Folianten mit Goldschnitt und Lesebändchen, auf dessen Rückseite Karls Name stand. Karl. "Das ist das weiße Buch", sagte der Onkel. "Es heißt so, weil es lauter weiße Seiten enthält. Du wirst, bis zu deinem Tod, jeden deiner Tage darin aufschreiben. Lang, kurz, nach deiner Art. So wie wir alle hier dies tun."

Seite um Seite

Karl hält sich an dieses Schreibgebot, das ihm an seinem 12. Geburtstag auferlegt wird. Tag für Tag führt er seine Aufzeichnungen, und nichts kann ihn daran hindern.

50 Jahre lang füllt er Seite um Seite. Als Karl stirbt, ist das Erste, was seine Witwe Clara tut, das weiße Buch in den Müll zu werfen. Seinem Sohn - dem Erzähler - bleibt nichts anderes übrig, als das Buch des Vaters nochmals zu schreiben.

Romanist, Lehrer, Literaturkritiker, Übersetzer

Die Lebensgeschichte, die Urs Widmer hier präsentiert, basiert auf der Biografie seines eigenen Vaters: Dieser hieß zwar nicht Karl, sondern Walter Widmer, alle wesentlichen Lebensdaten aber finden sich im Roman. Der 1965 verstorbene Walter Widmer war Romanist, Lehrer, Literaturkritiker und viel beschäftigter Übersetzer - unter anderem von Werken Flauberts, Balzacs und Zolas.

Er arbeitete am Morgen, bevor er in die Schule ging, an den freien Nachmittagen, am Sonntag, und hatte die Fähigkeit, im Kopf zu übersetzen. Er kannte den Wortlaut des Originals jeweils zehn oder zwanzig Zeilen im voraus und konnte sich auch ohne Mühe seine deutsche Version merken.

Obsessionen: Bücher und Schallplatten

Urs Widmer beschreibt den Vater als einen Menschen, dessen große Leidenschaft die Bücher sind. Ohne Rücksicht auf das Haushaltsbudget gibt er sich seiner Buch-Kauf-Obsession hin. Dazu kommt eine - in ebenso obsessiver Weise erworbene - riesige Schallplattensammlung. Der Vater scheint auf diese Art und Weise Mauern um sich herum zu errichten.

Vielleicht ist ihm auch nichts anderes übrig geblieben, als sein eigenes Universum aufzubauen - so wie es auch seine Frau getan hat. Die beiden leben nebeneinander, jeder für sich. Bezeichnend ist, dass der Erzähler Clara in seiner Darstellung konturlos lässt, fast schemenhaft, und sie auch kaum je als seine Mutter bezeichnet, sondern fast immer nur bei ihrem Vornamen nennt.

Stoff für Spekulationen

Mit dem "Buch des Vaters" hat Urs Widmer das ergänzende Gegenstück zu dem vor drei Jahren erschienenen Werk "Der Geliebte der Mutter" geschrieben.

Wie schon der "Geliebte der Mutter" bietet auch das Vaterbuch genügend Stoff für Spekulationen über das who is who der in die Geschichte involvierten Personen. Sehr realistisch ist das Umfeld geschildert, in dem sich der literatur- und kunstbegeisterte Vater bewegt. Bekannte Namen finden sich da - wie Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger oder der Verleger Gerd Hatje, mit dem Clara...

...unvermutet, über Nacht sozusagen, zu einer gemeinsamen Fahrt nach Italien aufbricht. Sie blieben zwei Wochen lang verschollen - und kamen glückstrahlend heim, Clara in einem schier durchsichtigen Kleid voller roter Blumen.

Porträt oder Schlüsselroman?

Urs Widmers "Buch des Vaters" kann auf verschiedene Weise gelesen werden: als Schlüsselroman, als biografisch angelegte Darstellung der Schweizer Gesellschaft der Zwischen- und Nachkriegszeit oder als einfühlsames Porträt eines liebenswerten, bücherbesessenen Einzelgängers.

Buch.Tipp
Urs Widmer, "Das Buch des Vaters", Diogenes Verlag 2003, ISBN 3257063873