Caro Diario

Tagebuch

Ab Februar führt die Redaktion der Ö1 Spielräume ihr Onlinetagebuch. Von Montag bis Freitag plaudern Elke Tschaikner, Mirjam Jessa, Albert Hosp, Giselher Smekal und Wolfgang Schlag aus der Schule. Heute visualisiert Wolfgang Schlag seine Hörerschaft.

Freitag, 6. Februar 2004

Liebe Hörerin, lieber Hörer,
das Schöne an Live-Sendungen ist, dass ich Sie am anderen Ende dieser Musik sehen kann.

Ich stelle mir vor, wie Sie im Auto sitzen und von der Arbeit nach Hause fahren, froh dass aus dem Autoradio eine Stimme kommt, die nicht von Cashflow und verkaufter Meter pro Regal spricht. Oder ich stelle mir vor, wie Sie die Haustür öffnen und bemerken, Sie haben in der Früh vergessen den Radio abzudrehen. Dann begrüße ich Sie in ihrer warmen, freundlichen Wohnung mit einem Lied von Evelyn Girardon aus dem Herzen Frankreichs. "Nimm nicht Nicolas zum Mann, der spielt den ganzen Tag Dudelsack, der ist nichts wert" singt sie, als Mutter zur Tochter und wir denken zurück an unsere Mütter.

Sie öffnen eine Flasche Bordeaux und setzen sich mit einem Glas an den Küchentisch. Sie erlauben mir, mich mit meiner Musik zu Ihnen setzen und sie eine halbe Stunde zu entführen. Nach Frankreich, ins Massif Central, ins Aostatal. "J'vais dans la riviere" singt Evelyn für uns. Wir reiten mit ihr gemeinsam über den Fluss aufwärts zu einer Quelle, die uns beide erfrischt, den Gestalter dieser Freitag-Spielräume und Sie.

Wolfgang Schlag

Donnerstag, 5. Februar 2003

“und die Sendung war ... einfach megafunjazzig" - das schrieb ein Internet-Hörer ins Gästebuch des deutschen Labels “Satin Doll", von dem ich am vergangenen Donnerstag einige CDs anspielte. Vielleicht erinnern Sie sich noch: "Charly and the Jivemates" (die Band des Erbprinzen von Hohenzollern), “Wolkenrad" mir der Frank Heinz Group und das Olaf Polziehn Trio…

Für mich war diese Sendung aber ziemlich stressig. Zuerst einmal wusste ich, dass die von mir ausgewählte Musik plus mein Manuskript zu lange waren. Also wies ich den Techniker an, die letzte Nummer “Wolkenrad", dieses sehr sensible Stück von Frank Heinz, “auf Schluss" stumm zu starten, d.h. die CD zu einem Zeitpunkt unhörbar zu starten, damit jedenfalls der Schluss noch in der Sendung zu hören ist. Die fast eine Minute dauernde Intro könnte ich dann noch für meinen Kommentar nutzen, unter dem langsam die Musik eingeblendet wird. - So, jetzt habe ich einen Trick verraten, wie man ohne Ausblenden doch eine Sendung rechtzeitig zu Ende bringt…

Aber es lief besser, als man denkt. Manchmal entschließe ich mich spontan, nicht das vorbereitete Manuskript zu lesen, sondern einfach zu improvisieren. Das ist doch legitim, wenn es sich um eine Sendung mit Jazz, also improvisierter Musik handelt - oder nicht?

Die vorletzte Nummer der Sendung hatte gerade begonnen, als der Techniker über die Gegensprechanlage sagte: “Die Zeit ist gut - ich muss den nächsten Cut gar nicht frühzeitig starten!" Meine Improvisation hatte mir ein Zeitguthaben geschenkt!

Und prompt in diesem Moment hörte ich einen Sprung in der Musiknummer. Naja, hoffentlich hat das kein Hörer bemerkt, war meine erste Reaktion. Ein paar Sekunden später wieder ein Ruck - und ich überlege: Wie schlimm war das nun? Werde ich es entschuldigen müssen, oder können wir uns weiterschwindeln, ohne den Ablauf zu gefährden? Und während ich darüber nachdenke, beginnt der Laser wie verrückt hin- und herzuwirbeln. Ich entscheide mich, die Nummer abzubrechen. Der Techniker öffnet das Mikrofon, und ich entschuldige mich sogleich für die Eigenwilligkeit des CD-Players. Aber was soll jetzt geschehen - überlege ich, während ich spreche. Durch die Glasscheibe sehe ich im Halbdunkel, wie der Techniker die CD in einen anderen Player einlegt und wild Tasten bedient. Ich denke, dass es ja keinen Sinn hat, wenn er die Nummer nochmals startet - dann ist mein ganzer Plan für den Rest der Sendung geliefert! Oder wenn er gar zufällig irgendeinen anderen Cut öffnet?!

Ich rede vor mich hin, ich konzentriere mich ganz darauf, sinnvolle Informationen zu formulieren und möglichst viele davon aus meinem Hirn zu kramen, um die fehlenden zwei Minuten bis zum vereinbarten Start der letzten Nummer zu füllen, damit wenigstens der Schluss der Sendung wirkungsvoll passt. Und ich versuche, ja keine Bewegungen zu machen, die der Techniker als irgendein Zeichen interpretieren könnte, um irgendeine Musik zu starten.
Der allerdings gibt Zeichen, er rudert mit den Händen, will mir irgendetwas signalisieren - ich bleibe bewegungslos und rede und rede… bis ich nicht weiterkann und nun selbst ein Zeichen gebe, in der Hoffnung, dass er, der Techniker, kein anderes als das vereinbarte Schlussstück startet.

Und genau das kam und lief und lief und lief - ohne jeden Knackser.

Ich bin so froh, dass es Dich gibt, liebes Tagebuch, um irgendjemandem das mitzuteilen, was man als Moderator eine Live-Sendung erlebt, aber in dieser selbst möglichst verschleiern muss.

Giselher Smekal

Mittwoch, 4. Februar 2004

Bei mir zu Hause türmen sich die CDs vom vergangenen Jahr. Ich träume von dem Tag, an dem ich Zeit habe, endlich einmal jede in die Hand zu nehmen, reinzuhören, die guten ins Töpfchen und die schlechten - ja, was mach ich eigentlich mit denen, die mir nicht gefallen?

Eines meiner vielen ungelösten Probleme. Wie das, im Zwang zur Aktualität ständig nur die Neuerscheinungen zu berücksichtigen. Die beiden Gitarristen John McLaughlin und John Scofield (Weltstars alle beide), die unabhängig voneinander plötzlich die Sehnsucht packte, mit Orchestern zusammenzuarbeiten, die beiden sind mir bei so einem ersten Stöbern in den vielen, vielen Stapeln am Wochenende untergekommen. So ergeben sich auch von selbst so schöne sinnvolle Querverbindungen. Ich habe jetzt ganz fest vor, bei mir zu Hause aufzuräumen.

Und bin selbst schon ganz gespannt, was ich dabei alles für die Spielräume entdecke. Und dann kommt das nächste Problem, das ich gerne mit anderen (auch Euch, werte KollegInnen) diskutieren würde: Wie ordnet man seine CDs? Alphabetisch? Nach Titel? Nach Interpret? Nach Genre? Gibt es tatsächlich Privatmenschen aus Fleisch und Blut, die die CDs "erfassen", im Computer Listen führen, den CDs Nummern geben?

Wie macht Ihr das, wie machen Sie das?

Mirjam Jessa

Dienstag, 3. Februar 2004

Unlängst erreicht mich ein Lied der Spielräume im Alltag: Die Batucadeiras de Rincon, ein Frauenensemble aus Santiago / Kapverdische Inseln, singen auf ihrer neuen CD (bei Inédit) auch eine Warnung vor diversen Drogen. Gespenstisch, wie im quicklebendigen afrikanischen "Call and response"-Muster, Zeilen wie die folgende vorkommen: "AIDS kann Dich töten".

Tags darauf, gehe ich die Stiege von der U2 / Karlsplatz Richtung Akademiestrasse hinauf. Hier ist eine der wenigen Stellen, die die Kameras der U-Bahn-Kontrolle nicht erreichen. Hier kauert ein junger Mann, vielleicht zwanzig Jahre alt, linker Arm entblößt, die Nadel in der Armbeuge, blutig, schweigsam, unansprechbar.

Die Sendung heute erzählt weniger dramatisches. Chava Alberstein aus Israel singt vom Übersiedeln und vom pfeifenden Wasserkessel. Mir fällt ein idiotischer Reklamespruch ein, der um die Jahrtausendwende auf Plakaten zu lesen war: "Life is your film".

Wenn wir uns das Leben als Film denken, wer soll ihn sich ansehen?

Albert Hosp

Montag, 2. Februar 2004

About Two Boys. Dieser Spielräume-Titel ist natürlich angelehnt an einen berühmten Buchtitel des Popsong-Connaisseurs Nick Hornby. Und sie sind ja wirklich (fast) noch "Boys", die Singer/Songwriter Ryan Adams (Jahrgang 74) und Rufus Wainwright (1973).

Apropos Hornby: Im letzten Jahr erschien das Büchlein "31 Songs", eine sehr persönliche, ziemlich pointierte, witzige und vor allem neugierig machende Liebeserklärung an einige Popsongs. Im Hornby'schen Songbook findet auch Rufus Wainwright Beachtung und zwar gleich auf eine gar "übersinnliche" Weise: Hornby schreibt, dass er sich zwar Mühe gibt, nicht an Gott zu glauben, aber manchmal hört er eben Songs, die ihn diesbezüglich stutzig machen. Und ein solcher Song ist "One Man Guy" von Loudon Wainwright III, gesungen von seinem Sohn Rufus und dessen Schwester Martha.

"...Mir erscheint er (Gott) zu Beginn der zweiten Strophe, gerade wenn Rufus und seine Schwester anfangen, im Duett zu singen. Vielleicht zeigt sich (vielleicht beweist er aber auch nur einen bislang unerwarteten Sinn für Humor) seine Gegenwart erstmals in der Textzeile "People meditate, hey, that's just great, trying to find the Inner You). Entscheidend ist der mehrstimmige Gesang, ob er Ursache oder Wirkung ist, bleibt die Frage. Erscheint Gott, weil Martha und Rufus so wunderbar zusammen singen - hört er sie aus der Ferne und denkt, das ist Musik nach meinem Geschmack, mal gucken, was da los ist? Oder befähigt er sie zu diesem Harmoniegesang - sieht er, was sie vorhaben und hilft Ihnen dabei... Ich werde mir dieses Zeug trotzdem nicht zu oft anhören, man weiß ja nie."
(Nick Hornby, "31 Songs", ins Deutsche übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Kiepenheuer & Witsch)

Aber PS: "31 Songs" am besten in der britischen Ausgabe besorgen, da ist nämlich eine CD mit den zugehörigen Songs dabei, also doppelter Genuss.

Und PPS: Eigentlich hätte der "One Man Guy" & Hornbys "göttlicher" Exkurs dazu in den Spielräumen vorkommen sollen, aber ich konnte die CD einfach nicht auftreiben! Wolfgang Schlag wollte sie mir borgen, aber der konnte sie auch nicht finden.

Elke Tschaikner