Die Entstehung der geistigen Denkschulen
Phänomen Achsenzeit
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers ist Begründer der Idee der Achsenzeit. Sie besagt, dass alle großen Philosophien und Religionen durch einen parallel verlaufenden geistigen Prozess entstanden.
8. April 2017, 21:58
Kurt Salamun vom Institut für Philosophie der Universität Graz über das Phänomen "Achsenzeit"
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine faszinierende Idee geboren, die auch heute nichts an Anziehungskraft eingebüßt hat. Sie besagt, dass innerhalb weniger Jahrhunderte vor der Zeitenwende ein geistiger Prozess stattfand, der die Welt nachhaltig geprägt hat.
Fast zeitgleich erwachte in mehreren Erdteilen eine bestimmte Art des Denkens und es entstanden die großen Philosophien und Religionen, die auch heute noch die Welt beherrschen. "Achsenzeit" wurde dieses parallel auftauchende Phänomen genannt. Ihr Entdecker: der große deutsche Existenzphilosoph Karl Jaspers.
"Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozess. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben."
(Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949)
Indien, China und das Abendland
Karl Jaspers schränkt die Orte des Entstehens und Wirkens der großen Philosophien und Religionen auf Indien, China und das Abendland ein. Auf die Philosophien Afrikas oder Südamerikas geht er nicht ein, außerdem fasst er unter dem Begriff Abendland so unterschiedliche Strömungen wie die antike Philosophie oder das Denken der Propheten Israels zusammen.
Doch trotz dieses Reduktionismus bleibt es das Verdienst Jaspers, mit seiner Idee der Achsenzeit vom Eurozentrismus der Philosophie abgerückt zu sein und eine Gesprächsbasis zwischen den verschiedenen Kulturen geschaffen zu haben.
Abkehr von mythischen Denkweisen
In den Jahrhunderten vor der Zeitenwende beginnt man radikale Fragen zu stellen, bislang geltende Normen und Traditionen kritisch zu hinterfragen sowie mythische und magische Denkweisen abzulehnen, schreibt Jaspers. Das Bewusstsein wird geschärft, spezielle Denksysteme und Schulen treten in Konkurrenz zueinander und bewirken dadurch einen gewaltigen Aufschwung des geistigen Lebens.
Für Wolfgang Röd, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Innsbruck, geschah dies am eindrucksvollsten bei den griechischen Philosophen. Doch auch im indischen Denken vollzog sich zu dieser Zeit eine Abkehr vom mythischen Denken, beobachtet Ram Adhar Mall, Präsident der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie. In der Achsenzeit protestierte Buddha gegen die Opferriten der Hindus. Die Göttergestalten der Veden - wie Wind, Feuer, Wasser und Luft - wurden nunmehr als psychische Kräfte gedeutet.
Das Gute belohnen und das Böse bestrafen
Das System der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Bösen hält Prof. Mall für die größte Gemeinsamkeit zwischen indischem und abendländischem Denken.
"Belohnt und bestraft wird vor allem im konkreten Leben. Auf dem Gebiet der Lebenspraxis hat uns die chinesische Philosophie nach Lao Tse und Konfuzius einiges zu sagen," meint Prof. Mall, "während es bei Konfuzius mehr um die Pflichten der kriegerischen Oberschicht geht, wird bei Lao Tse das Menschenbild der Unterschicht thematisiert, welches vor allem eine Gleichstellung von Mann und Frau vorsieht."
Gibt es einen gemeinsamen Nenner?
Karl Jaspers war auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Denkansätze und Geisteshaltungen, die auf der Welt vorherrschen.
"Mehrere von einander im Ursprung getrennte Straßen scheinen zunächst zum gleichen Ziel zu führen. Es ist eine Mannigfaltigkeit des Gleichen in drei Gestalten. Es sind drei selbständige Wurzeln einer später - nach unterbrochenen Einzelberührungen endgültig erst seit einigen Jahrhunderten, eigentlich erst seit heute - zu einer einzigen Einheit werdenden Geschichte."
(Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949)
Buch-Tipps
Karl Jaspers, Hans Saner, "Was ist der Mensch?", Verlag Piper, ISBN 3492237401
Karl Jaspers, "Die geistige Situation der Zeit", Gruyter, ISBN 3110163918
Karl Jaspers, "Einführung in die Philosophie", Verlag Piper, ISBN 3492200133
Links
Österreichische Karl-Jaspers-Gesellschaft
Biografie - Karl Jaspers