Das tragische Leben eines Humoristen

Ein russischer Karl Valentin

"Worte und Gefühle wie Heroismus, Pathos, Schicksal, Moral, Reinheit und Sittlichkeit sind mir verhasst. Dagegen begreife und achte ich zutiefst: Inspiration und Verzweiflung, Leidenschaft und Beherrschung, Kummer und Leid, Freude und Lachen."

Die bekannte russische Kinderbuchautorin Nina Gernet erinnert sich: "Daniil Iwanowitsch war der Erstaunlichste und Unwiederholbarste inmitten der literarischen Elite. Äußerlich war er am ehesten zu charakterisieren mit dem Wort Gentleman. Hoch aufgeschossen, schön, sehr gut erzogen, korrekt bis in die Haarwurzeln, sauber, zutiefst anständig hatte er ein vollkommenes Gespür für Humor und, nicht weniger vollkommen, für das Wort".

Was ihn nicht davon abbringt, sein Publikum immer wieder zu verblüffen: durch Worte, durch immer wieder neue Namen (auf etwa 30 hat er es gebracht), durch vertauschte Identitäten (einmal gibt er sich als sein Zwillingsbruder aus), oder durch absonderliche Kleidung (aber stets mit Hut und Pfeife).

"Ein Gedicht muss so geschrieben sein, dass - würde man es gegen ein Fenster werfen - das Glas zu Bruch ginge," sagt er.

Der tapfere Igel

Auf dem Tisch steht eine Kiste.
Tiere kommen herbei. Neugierig schauen, schnuppern, lecken sie an der Kiste.
Plötzlich springt die Kiste auf.
Und aus der Kiste - huch - kriecht eine Schlange.
Erschrocken laufen die Tiere davon.
Nur der Igel nicht. Er wirft sich auf die Schlange und frisst sie auf.
Jetzt springt er selbst in die Kiste und schreit: "Kikeriki!"
Nein, anders. Der Igel schreit: "Wau-wau-wau!"
Nein, so auch nicht! Der Igel schreit: "Miau-miau!"
Nein, wieder falsch! Wie denn nur? Ich weiß es nicht.
Weiß einer von euch, wie Igel schreien?

Die Überwindung der Realität

Daniil Iwanowitsch Juwatschow ist das hoch begabte Kind eines Sozialrevolutionärs und einer Adeligen. Zwei Studien bricht er ab, um Rezitator, Schriftsteller und Dichter zu sein. Sein Werk wird mit den Worten "absurd, surreal, dadaistisch, futuristisch, bizarr" etikettiert. Er gründet mit Kollegen die "Schule gegen den gesunden Menschenverstand".

Die Kunst ist für ihn die Überwindung der Realität jener Stalinschen Welt, in der er lebt. 1928 weicht Charms aus, in die Kinderliteratur. Wird 1932 schließlich doch eingeholt, verhaftet, verbannt. Die größte Kinderzeitschrift titelt: "Unsere Kinder wollen wissen, wer Freund ist und wer Feind."

Charms konnte Kinder - nach eigener Aussage - nicht leiden. Überhaupt wirkte er unnahbar. Oft wirkten seine Gesichtszüge äußerst finster. Die Kinder konnte er damit nicht täuschen.

Fabel

Ein Mann, klein gewachsen, sagte: "Ich bin ja ganz zufrieden, nur wäre ich gern ein wenig größer".
Da trat plötzlich eine Zauberin vor ihn hin. "Was wünschst du dir?", fragte sie.
Aber der Mann, klein gewachsen, bekam vor lauter Schreck nicht ein Wort heraus.
"Ich höre", sprach die Zauberin.
Aber der Mann, klein gewachsen, konnte keinen Laut hervorbringen.
Da verschwand die Zauberin.
Da begann der Mann, klein gewachsen, bitter zu weinen und seine Nägeln abzukauen - erst die an den Händen, dann die an den Füßen.
Du, Leser, vertiefe dich in diese Fabel und du wirst dir die Haare raufen.

(Daniil Charms, 1935)

Am 2. Februar 1942 stirbt Charms in einem Gefängnis. Die genaue Todesursache ist nicht bekannt, wahrscheinlich ist er verhungert.

Links
Daniil Charms - Fansite
Gedichte
Wer war Daniil Charms? - MDR-Seite
Von den Erscheinungen und dem Existentiellen - Text von Daniil Charms