Die Geburtsstunde des industriellen Plattenbaus

Little Boxes - Wohnen in der Platte

Hoyerswerda-Neustadt ist die erste industriell gefertigte Plattenbaustadt der Welt. Das Konzept "Plattenbau" war ursprünglich menschenfreundlich dimensioniert gedacht - erst ab Mitte der sechziger Jahre wurde diese Technik für den Massenwohnungsbau benutzt.

Der Name Hoyerswerda hat sich ins europäische Gedächtnis eingebrannt, als Synonym für Gewalt gegen Ausländer und eine in der "Post-DDR" nicht für möglich gehaltene Neonaziszene. Hoyerswerda, "die Stadt von 1991", hat noch eine andere Geschichte: Die Neustadt ist die erste industriell gefertigte Plattenbaustadt der Welt.

Sie wurde ab 1957 als Wohnstadt für die Arbeiter des Braunkohlekombinats "Schwarze Pumpe" errichtet, das nur wenige Kilometer von Hoyerswerda und nahe der polnischen Grenze liegt.

Plattenbau in der Steppenlandschaft

Wo heute eine Plattenbaustadt für 70.000 Menschen steht, war 1955 eine öde Steppenlandschaft. Zuerst wurde das Betonwerk gebaut. Im Volksmund heißt es "die Häuserfabrik". Hier wurden die Platten gefertigt. 1957 stand der weltweit erste Plattenbau, dessen Fertigteile in einer Fabrik gegossen wurden. Die Steppenlandschaft wurde zur Großbaustelle, die Arbeiter montierten Tag und Nacht.

Tausende Menschen wollten nach Hoyerswerda ziehen, um in diesen Wohnungen zu leben. Geheizt wurde mit Fernwärme aus Schwarze Pumpe, Warmwasser und Strom "aus der Wand" wurden ebenfalls zu Statussymbolen. Die Wartezeiten für die Wohnungen betrugen bis zu zwei Jahren.

Pionierstimmung in Hoyerswerda

Der Architekt Klaus Richter arbeitete als junger Mann im "Aufbaustab für die Neustadt". Hier empfing er 1960 die Schriftstellerin Brigitte Reiman, die wie andere Intellektuelle von der Pionierstimmung der Stadt angezogen wurden. Sie verewigte den Aufbau von Hoyerswerda-Neustadt und die Probleme ihrer Bewohner in dem Architektinnenroman "Franziska Linkerhand", der zum Kultbuch der kritischen Linken wurde.

Der Roman beschreibt nicht nur das Lebensgefühl und die Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre - versinnbildlicht am Aufbau der technisierten Stadt - sondern auch, wie das "Projekt Moderne" durch Technokraten, Ökonomen und die sozialistische Partei pervertiert wurde und schließlich scheiterte.

Konzept nach der "Charta von Athen"

Die ersten Stadtviertel wurden noch gemäß den Städtebauprinzipien der "Charta von Athen" errichtet, die Architekten wie Le Corbusier 1933 definiert hatten. Die Blocks sind vierstöckig, lichtdurchflutet und stehen in weiträumigen Grünanlagen.

Pro Einheit gibt es einen Kindergarten, Läden, Gasthäuser, eine Schule und eine Gemeinschaftsküche. Hoyerswerda-Neustadt hat berühmte Forscher inspiriert. Der Erfinder des Personalcomputers, Konrad Zuse, ging hier zur Schule.

Einwohnerdichte verdoppelt

Ab Mitte der sechziger Jahre wurden diese städtebaulichen Prinzipien vernachlässigt und die Plattenbautechnik für den Massenwohnungsbau genutzt.

Die Einwohnerdichte wurde auf das doppelte hochgeschraubt, es gab keine Kunst am Bau mehr, keine Farbkonzepte, keine Rücksicht auf die Menschen in der Platte. Brigitte Reimanns Romanfigur resigniert, und die Schriftstellerin flüchtete enttäuscht aus der Stadt, genau wie der Stadtarchitekt Klaus Richter.

Plattenbauweise in Verruf geraten

Heute wird die Plattenbauweise für die städtebauliche Fehlentwicklung verantwortlich gemacht und auch mit den politischen Verfehlungen gleichgesetzt.

Seit der Wende hat die Stadt Hoyerswerda fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren, weil "Schwarze Pumpe" modernisiert und gut 14.000 Menschen entlassen wurden. Wie in den meisten Industriestädten muss die arbeitsfähige Bevölkerung wegziehen. Das Paradeschicksal einer Industriestadt.

Wie baut man eine Stadt zurück?

Heute werden die Platten von Hoyerswerda reihenweise abgerissen, um den Wohnungsmarkt zu retten. Aber: wie baut man eine Stadt zurück? Dafür gibt es in der jüngeren europäischen Geschichte keine Vorbilder.

Die Professorin Simone Hain hat in Hoyerswerda jüngst mit der Schulung einer neuen Generation von Architekten für die Bauaufgabe "Rückbau" begonnen und der Verein "Spirit of Konrad Zuse" hat das Kunstprojekt "Superumbau" organisiert: Künstler arbeiteten mit den kulturellen und sozialen Folgen der Abwanderung und De-industralisierung und suchen Perspektiven für ein nicht vollständiges Auslöschen der Stadt. Denn das Problem der Schrumpfung von Städten wird heute nicht nur in Ostdeutschland als "Plattenbauproblem" diskutiert und lässt sich so naturgemäß nicht lösen.

Service

Buch-Tipp
Brigitte Reimann: "Franziska Linkerhand", Aufbau Verlag, ISBN 3746615356

Links
Hoyerswerda
superumbau - Kunstprojekt zur Erforschung urbanen Lebens in schrumpfenden Städten