Ist das Internet noch ein revolutionäres Medium?

Die Reformation des Internet

Am Höhepunkt der Dot.com-Euphorie erhoben vier Querdenker ihre Stimmen und veröffentlichten im Internet 95 Thesen, in denen sie die E-Commerce-Exzesse anprangerten. Einer der Autoren war der Philosophieprofessor David Weinberger.

David Weinberger: Über die Entstehung des "Cluetrain Manifests"

Eine Begegnung mit David Weinberger ist fast zwangsläufig eine Begegnung mit der Vergangenheit. Konkret: Mit jener Frühphase des Internet, die als "Dot.com"-Ära in die Annalen eingegangen ist. Damals schienen im Internet die Bäume in den Himmel zu wachsen. Eine Zeitlang konnte damals jeder Millionär werden, indem er selbst an die abstruseste Geschäftsidee einfach ein ".com" anhängte.

Auch kluge Köpfe verfielen zu dieser Zeit dem virtuellen Goldrausch und der kritische Verstand setzte aus, als in ihren Augen die Dollarzeichen zu blinken anfingen. Manche bewahrten sich allerdings ihren kritischen Verstand, wie etwa David Weinberger und seine drei Freunde: den Softwareentwickler Chris Locke, den auf Internet-Firmen spezialisierten Unternehmensberater Rick Levine und den Publizisten Doc Searls. Gemeinsam verfassten die Vier 1999 das "Cluetrain Manifest".

Ein Manifest gegen die Vereinnahmung des Internet

  • Durch das Internet kommen Menschen miteinander ins Gespräch, das war im Zeitalter der Massenmedien undenkbar.
  • Menschen reden miteinander sowohl in den intervernetzten Märkten als auch unter intravernetzten Kollegen.
  • Diese vernetzten Gespräche gebären neue und machtvolle Gestalten gesellschaftlicher Beziehung und des Austauschs von Wissen.
  • Dabei werden die Märkte intelligenter, sie sind besser informiert und sie organisieren sich von alleine.
  • In vernetzten Märkten mitzuwirken, verändert die Menschen grundlegend.
95 dieser Thesen oder besser gesagt: 95 solcher treffend formulierten Kurzanalysen der New Economy umfasste das "Cluetrain Manifest", das im Jahr 2000 dann auch in Buchform erschien und sofort zu einem Bestseller unter den Business-Büchern wurde.

Basierend auf eigenen Erfahrungen

Die Autoren des "Cluetrain Manifests" sprachen dabei auch aus eigener Erfahrung als Marketingexperten und Unternehmensberater bei großen multinationalen Firmen.

David Weinberger etwa hatte zuvor Sun Microsystems strategisch beraten, zusätzlich aber auch wertvolle Erfahrungen als Mitarbeiter bei einem Start-Up und als Gründer einer eigenen Firma gewonnen.

Nach dem Dot.com-Crash

Seit der Veröffentlichung des "Cluetrain Manifests" hat sich einiges verändert: Die Dot.com-Blase ist geplatzt und das Internet hat viel von seinem Nimbus als revolutionär neues Medium verloren.

Für David Weinberger ist das Internet allerdings nach wie vor revolutionär und neu. Im Moment sieht er online Entwicklungen, die von der Öffentlichkeit wenig beachtet werden, die aber dennoch die Art, wie etwa Arbeit in Unternehmen organisiert wird, tiefgreifend verändert.

Der Siegeszug von "sozialer Software"

Als Beispiel nennt Weinberger den Siegeszug von "sozialer Software" und da insbesondere die sogenannten WIKIS:

"WIKIS gibt es schon eine ganze Zeit. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine furchtbare Idee zu handeln, speziell in den Augen von Firmen. Man stelle sich vor: Ich schreibe ein Memo oder einen Bericht und jeder kann kommen und löschen, was ich geschrieben habe. Oder Falschinformationen hineinschreiben. Oder Schimpfworte. Im letzten Jahr haben sich aber zahlreiche und vor allem auch sehr große Firmen begonnen, sich für WIKIS zu interessieren. Für mich ist das ein Zeichen, dass das Ethos des gegenseitigen Vertrauens, das generell die Entwicklung des Internet vorantreibt und das wir tagtäglich online erleben, jetzt auch Einzug in das Selbstverständnis von Unternehmen zu halten."

Was das Internet im Innersten zusammenhält

In seinem, im Vorjahr veröffentlichten Buch "Small Pieces Loosely Joined" (Perseus Books) beschäftigt sich David Weinberger eingehend mit den Auswirkungen, die die neue Technologie des Internet auf die Gesellschaft und auf unsere Vorstellungen von Raum, Zeit, Materie, Wissen und Moral hat.

Er betont dabei aber gleichzeitig, dass es nicht Backbones und Programmiersprachen und Übertragungsprotokolle sind, die das Internet in seinem Innersten zusammenhalten, sondern die Menschen und die von ihnen entwickelte und praktizierte Kultur der Kommunikation und des Austauschs, die in dieser Form in der realen Welt nicht oder zumindest seit langem nicht mehr möglich scheint.