Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit
Das "Schreckliche tschechische Jahrzehnt"
Eine offene Diskussion zu den schwierigen Fragen der tschechischen Geschichte ist erst seit dem Fall des Kommunismus 1989 möglich. Und wie das bei solchen Diskussionen der Fall ist - wir kennen das aus Österreich - kommt sie nur langsam in Gang.
8. April 2017, 21:58
Der Politikwissenschafter Jiri Pehe über das Geschichtsbewusstsein der Tschechen.
Das Jahrzehnt von 1938 bis 1948 wird in Tschechien das "schreckliche Jahrzehnt" genannt. Der Anschluss der Sudetengebiete ans Deutsche Reich, die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutsche Wehrmacht, Heydrich-Attentat und Lidice, die Vertreibung der Sudetendeutschen und Ungarn sowie die Machtergreifung der Kommunisten - all das hat sich in diesen zehn Jahren ereignet.
Wenig Interesse an historischer Diskussion
Tschechische Wissenschafter haben sich seit 1989 durchaus intensiv mit dieser Periode beschäftigt, auch mit der Geschichte der Vertreibung der Deutschen und Ungarn aus der damaligen Tschechoslowakei im Gefolge der Benes-Dekrete. Statt - wie früher - von "Aussiedlung" wird dabei heute durchaus von "Vertreibung" gesprochen. Dennoch ist die Rezeption dieser Erkenntnisse in der Öffentlichkeit sehr beschränkt.
"Wir haben ein ganzes Bündel an Fragen zur Geschichte zu diskutieren, aber niemand will daran rühren. Denn jeder hat ein wenig schmutzige Hände, und es ist sehr schwer sich einzugestehen, dass man nicht das Richtige getan hat", meint der Politikwissenschafter Jiri Pehe.
Die Anfechtung offizieller Positionen
In der politischen Debatte um die Benes-Dekrete hat sich die offizielle Position etwa so dargestellt: Die Vertreibung von etwa drei Millionen Deutschsprachigen wird als notwendiges Übel angesehen, zu der es damals keine andere Alternative gegeben hat, die vorgekommenen Exzesse werden bedauert. Das ist auch der Mainstream der Geschichtsschreibung der heutigen Tschechischen Republik.
Dieser vorherrschenden Position haben die beiden Politologen Bohumil Dolezal und Jiri Pehe in einer Erklärung widersprochen. Sie wenden sich dabei gegen zwei Auffassungen: erstens dagegen, dass die Vertreibungen eine zwangsläufige und quasi unausweichliche Folge des Naziterrors gewesen wären, und zweitens dagegen, dass die Vertreibungen aus heutiger Sicht zwar unannehmbar, aus der damaligen aber verständlich seien.
Es ist für das gesellschaftliche Klima in Tschechien bezeichnend, dass es für Dolezal und Pehe nicht einfach war, ihre Erklärung auch in einer Zeitung publizieren zu können. Die offizielle Geschichtsschreibung sei in der Hand einer ausgesprochen nationalistischen Gruppierung, sagt Dolezal.
Staatstragende Darstellungen und so genannte Nestbeschmutzer
Im April des Vorjahres hatte der Tschechische Historikerverband eine Erklärung veröffentlicht, die sich gegen "selbsternannte Interpreten der Vergangenheit" richtete, die sich der Geschichte als einer "Angriffswaffe" bemächtigen würden. In der Erklärung heißt es: "Die Bürger der Tschechischen Republik werden zweifellos von neuem über ihren und den Weg ihrer Vorfahren im 20. Jahrhundert nachdenken. Sie haben jedoch nicht den geringsten Grund, irgendeine kollektive Kriminalisierung zu akzeptieren und Alternativen zu den klar definierten Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs in Betracht zu ziehen." Damit sind jene gemeint, die die Vertreibung als Unrechtshandlung und die Tschechen auch als Täter und nicht nur als Opfer sehen.
Es ist das eine Kontroverse, die in ihren Grundzügen auch aus Österreich bekannt ist: hier die staatstragende Geschichtsdarstellung, da die sogenannten Nestbeschmutzer. Die offizielle Sichtweise betont den Opferstatus des Landes: Die Tschechen waren Opfer der Großmachtpolitik beim Münchner Abkommen 1938, bei den Vertreibungen Opfer der alliierten Abmachungen in Potsdam 1945, und bei der kommunistischen Machtergreifung 1948 Opfer der Teilung Europas.
Die Reflektion der eigenen Geschichte ist unbeliebt
Das Böse, so könnte man zugespitzt sagen, kam also immer von außen. Demgegenüber legen die Kritiker ihr Augenmerk auf die Beteiligung der eigenen Gesellschaft und der Politiker: Sie fragen nach der Kollaboration mit den Nazis, nach der Rolle der Tschechen bei den Vertreibungen und bei der Ausschaltung der Demokratie 1948.
Eine systematische Darstellung der Vertreibung wurde in Tschechien erstmals 1996 vom Ostrauer Historiker Tomas Stanek veröffentlicht. Die Veröffentlichung von Staneks Buch hat in der tschechischen Öffentlichkeit zu einigen Kontroversen geführt. Der Autor wurde dabei der nationalen Selbstgeißelung und des Verrats beschuldigt, und diese Reaktionen seien der Grund dafür, dass der Autor heute keine Interviews mehr gibt, sagt sein Übersetzer Walter Reichel.
Buch-Tipps
Detlef Brandes, "Der Weg zur Vertreibung", Oldenbourg-Verlag, ISBN 3486565206
Peter Glotz, "Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück", Ullstein-Verlag, ISBN 355007574X
Niklas Perzi, "Die Benes-Dekrete - Eine europäische Tragödie", Verlag Niederösterreichisches Pressehaus, ISBN 3853260993
Tomaz Stanek, "Verfolgung 1945", Übersetzt von Otfrid Pustejovsky und Walter Reichel. Im Böhlau-Verlag, ISBN 320599065X