Botho Strauß' Traumsituationen
Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich
In diesem Buch geht es immer um Situationen, man könnte fast sagen: Traumsituationen, die in sich zerfallen, die aber alle mit verschiedenen Querverbindungen ein rätselhaftes Myzel bilden, meint Wendelin Schmidt-Dengler in seiner Rezension.
8. April 2017, 21:58
Eine Vorwarnung: Der Titel des Buches "Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich" ist eine Fehlanzeige, die die fraglichen Elemente unserer Fantasie in Trab setzen soll: Man malt sich sofort eine prekäre Ehebruchssituation aus, ein Mann, der in das Bett einer anderen geschlittert ist, und Botho Strauß spielt auch zu Beginn mit dieser Vorstellung. Da heißt es:
In einer Nacht, in der ein Mann umständehalber nicht bei seiner Frau liegt, sondern im fremden Bett bei einer Unbekannten, findet er ohnehin keinen ruhigen Schlaf. Er wälzt den Kopf im Kissen und träumt von tausend Unbekannten, die alle noch in sein Leben treten wollen. Er jagt durch einen Sphärenwirbel nie gesehener Gesichter. Und neben ihm die nackte Schulter und der stete Atem einer Zugewandten, die alles ruhigen Gewissens bei sich bewahrt.
Verbindung gesucht
Noch ein wenig weiter wird dieser Erzählfaden gesponnen; da wird überlegt, ob durch irgendwelche gemeinsame Bekannten Julia mit Alice verbunden sein könnten. Doch der Erzähler winkt ab: Er würde von keiner der beiden eine klare Auskunft bekommen, ob sie vor der fraglichen Nacht einander gesehen hätten.
Damit wird eine Spannung aufgebaut, doch der Autor führt den Leser immer nur ein kleines Stückchen weiter, und dieser wartet voller Ungeduld, wann es endlich zu der fraglichen Nacht kommen würde. Doch hier sei verraten: Es kommt nie dazu.
Traumsituationen mit Querverbindungen
Jeder, der sich eine handfeste Story mit einem kräftigen Schlussstrich oder gar einer moralischen Bilanz erwartet, wird enttäuscht. Es sind immer Situationen, man könnte fast sagen: Traumsituationen, die in sich zerfallen, die aber alle mit verschiedenen Querverbindungen ein rätselhaftes Myzel bilden.
Der Held, der Ich-Erzähler, ist ein Projekte-Macher, der sich mit Julia psychologischen Schulungsprogrammen widmet, und "Übungen zur Verbesserung der Selektionsfähigkeit" anbietet.
Mythologische Metamorphosen
Es geht um Metamorphosen, die meist einem Traum zu entstammen scheinen, oft aber auch nicht mehr sind als ein drolliges Weiterspinnen mythologischer Standardszenen. Julia entwirft eine solche groteske Skizze: Io ist in einen Stier verwandelt und streckt ihre Arme nach Argus aus:
Doch sie hat keine Arme als Rind. Das ist kein liebenswürdiges Bild, sondern Ausdruck höchster physischer Qual, ein Alptraum. ... Ich glaube, in jeder Gestalt, auch in unserer, steckt eine gehemmte Entwicklung, wir sind nicht zu Ende gekommen..."
Gedanken und Assoziationen
Und so dürfen die Figuren in diesen Texten sich ihren Gedanken und Assoziationen überlassen. Selten gerinnt eine längere Sequenz zu einer Episode, und diese wird nie finalisiert. Meisterhaft gleitet der Redefluss von einem zum anderen, und ehe man sich's versieht, ist man schon ganz wo anders.
Auch dass der männliche Ich-Erzähler plötzlich merkt, dass sein Geschlecht durch einen Trick geändert wurde, bleibt merkwürdig folgenlos - ein Traumereignis eben. Obwohl alles so merkwürdig surreal wirkt, hat es doch seinen festen, deutlich gekennzeichneten Platz in den Schichten des intellektuell infizierten Mittelstandes, und diesem gilt die satirische Aufmerksamkeit des Textes.
Kein erhobener Zeigefinger
Die satirischen Partien sind das Beste an dem Buch, nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht von der Absicht getragen sind, irgendwie gesellschaftskritisch wirken zu wollen oder gar den Zeigefinger moralisch zu erheben. Wer will, kann sich für den täglichen Apercubedarf manch nahrhaftes Stück herunterschneiden, etwa:
Der Schauspieler ist der Mensch, der jede Belanglosigkeit mit kristallklaren Endsilben ausspricht. Er ist unfähig, missverständlich zu nuscheln, unfähig, mit seinem angeborenen Zungenschlag zu sprechen.
Ein anderer Botho Strauß
Ein Kabinettstück ist die Episode, da das Ehepaar das Haus einer Koryphäe auf dem Gebiet der Neurochemie hüten soll: Ich kenne wenige Texte, in denen das pikierte und herablassende Verhalten der Wissenschaftsheroen so genau getroffen und schonungslos karikiert wird.
Das ist ein anderer Botho Strauß als wir ihn von seinen oft so schweren und reflexionslastigen Texten wie "Beginnlosigkeit" kennen, das ist auch ein anderer als jener Botho Strauss, der mit seinem "Anschwellenden Bocksgesang" auf die Linken mit archaischer Wucht einschlug.
Nein, das ist ein humorvoller, alle Leseerwartungen düpierender Ironiker, der sich vielleicht einen Jux machen wollte, und das macht gar nichts, so lange der Witz nicht zum ärgerlichen Selbstzweck wird, sondern Erkenntnisse zu Tage fördern hilft.
Buch-Tipp
Botho Strauß, "Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich", Hanser Verlag München 2003, ISBN 3446203575
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Biografie Botho Strauß