Hexenkessel

Chihiros Reise ins Zauberland

Hayao Miyazakis animiertes Kunstwerk ist eine Reise in die Innenwelten heutiger Zivilisationen, getarnt als symbolreiches Märchen.

Das Essen ist angerichtet. Die Schüsseln in den Buden eines Vergnügungsparks sind zum Bersten gefüllt. Doch niemand ist da, der bedient. So bedienen sich Chihiros Eltern einfach selbst. Und das nicht zu wenig. Papa und Mama schlingen wie die Schweine. Chihiro steht fassungslos daneben.

Wo den Eltern jegliches Gespür für Manieren und Respekt abhanden gekommen ist, beharrt das 10-jährige Mädchen auf seiner Intuition: Irgendetwas stimmt hier nicht. Und schon sind aus den Eltern Schweine geworden. Ein Zauber hat sie gefangen. So schnell die Teller gefüllt waren, so rasch hat die Verführung ihre Spuren hinterlassen. Chihiro macht sich auf den Weg, um die Zauberin zu finden: die Hexe Yubaba.

Gier als Wurzel aller Übel

"Chihiros Reise ins Zauberland" ist vor allem eine metaphernreiche Reise ins Leben, in pervertierte Auswüchse der Zivilisation und persönliche Tragödien, in Charakterwelten und Fantasiegebilde. Als Märchen getarnt, brilliert Hayao Miyazakis Zeichentrickfilm vor allem als Beschreibung einer zusehends entrückten Welt. Von allen Übeln der Welt ist wohl die Habgier das übelste, die Wurzel aller Übel quasi. Der Drang nach Mehr: höher, größer, schöner.

Eltern überfressen sich, Yubaba zählt immer wieder ihr Geld, die Arbeitssklaven in ihrem Badehaus verkaufen sich schamlos gegen Goldstücke. Die Dämonen der Gier haben kein Gesicht und so erweist sich ein Ohngesicht mit schwarzem Umhang in diesem Hexenkessel als das gefräßigste aller Monster. Je mehr es gefüttert wird, desto mehr will es haben.

Allegorische Vielfalt

Nur Chihiro behält einen klaren Kopf und - so wie ihr Schöpfer Hayao Miyazaki - den Glauben an eine andere Welt. Mit erfrischend kindlicher Unschuld und Fantasie bewältigt das Mädchen die Torheiten der Erwachsenen, steuert mit zielsicherem Instinkt für Humanität durch die Unwägbarkeiten missratener Märchen-Existenzen.

Zahlreiche Metaphern und allegorische Vielfalt sind Miyazakis Kommunikationsmittel, die er wohl dosiert, um so eine Lesbarkeit auf unterschiedlichsten Stufen zu ermöglichen. Auch auf unterschiedlichsten Altersstufen. Man muss nicht jedes dieser Symbole exakt dechiffrieren, um Miyazakis Grundanliegen zu verstehen. Nur selten wird Miyazaki aber so deutlich wie bei der Verwandlung von Chihiros Eltern.

Angenehm antiquierte Bilder

Zweifellos: Das Animationsgenre boomt. Doch wo sich Disney und Pixar mit technischen Großleistungen einen erbitterten Kampf um die Marktführerschaft liefern, bietet "Chihiros Reise ins Zauberland" auch einen formalen Kontrapunkt zu den digitalen Kunststücken aus Hollywood.

Die Bilder aus Miyazakis Animationsstudio Ghibli wirken angenehm antiquiert. Hier wird vieles noch mit der Hand gezeichnet und erst später am Computer digitalisiert und mit Spezialeffekten versehen.

Ironische Kommentare

Dass man mit dieser Mischung künstlerisch (Berlinale-Sieger 2002, Oscar 2003), aber auch kommerziell erfolgreich sein kann, beweisen die Einspielergebnisse in den Kinos: Innerhalb eines Jahres sahen 21 Millionen Menschen allein in Japan Miyazakis Märchen und im gesamten asiatischen Raum spielte der Zeichentrickfilm bislang 300 Millionen Dollar ein. So avancierte "Chihiros Reise ins Zauberland" zum erfolgreichsten Film, den es je auf diesem Kontinent gab.

Chihiros Reise ins Zauberland
(Spirited Away)
USA, Japan, 2002
mit den Stimmen von Sidonie von Krosigk, Nina Hagen, Tim Sander, Cosma Shiva Hagen
Drehbuch und Regie: Hayao Miyazaki