Ein Mädchen sucht den Mörder

Der kleine Freund

Es ist ein düsteres Szenario, das Donna Tartt beschreibt, ein Szenario, das weitgehend vom Schatten eines Toten bestimmt wird. Trotzdem ist das Buch kein Kriminalroman, sondern mehr eine Betrachtung über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens.

Harriet, die Hauptfigur des Buches, war erst wenige Monate alt, als man ihren damals neunjährigen Bruder Robin erhängt im Garten fand. Robins Mörder wurde nie gefasst, die Familie lebt seither mit dem Gespenst des toten Kindes, bis Harriet im Alter von 12 Jahren beschließt, Robins mysteriösen Tod aufzuklären. Trotzdem ist "Der kleine Freund" kein Kriminalroman - tatsächlich geht es der Autorin um etwas ganz anderes:

Endpunkt der Geschichte gesucht

"Es geht um die Idee der Gerechtigkeit und darum, wie wir manchmal Gerechtigkeit erzwingen wollen. Das ist der Fehler, den auch das kleine Mädchen im Buch macht. Sie möchte die Familientragödie enträtseln. Sie versucht irgendwie, der Geschichte einen Endpunkt zu geben, sie benutzt die Mechanismen einer Erzählung - aber das ist nicht möglich."

Anfang der 90er Jahre sorgte Donna Tartt mit ihrem ersten Roman "Die geheime Geschichte" für Aufsehen. Schon für diesen Erstling brauchte sie fast neun Jahre. Mit ihrem zweiten Buch hat sie sich nun rund zehn Jahre Zeit gelassen:

Viel Zeit, sich zu entwickeln

Diese Liebe zur Langsamkeit macht sich auch in Donna Tartts Büchern bemerkbar und hat sich seit der "Geheimen Geschichte" womöglich noch gesteigert. Tartt hat keine Eile, die Handlung voranzutreiben, sie gibt ihren Charakteren viel Zeit, sich zu entwickeln, flicht unbekümmert lange Passagen ein, in denen sie sich Beschreibungen oder Reflexionen widmet. "Der kleine Freund" wirkt dadurch manchmal beinahe etwas langatmig, trotz der scharfen Beobachtungsgabe der Autorin und ihres ungewöhnlichen und metaphernreichen Stils.

Nach Idas Fortgang war Harriets Mutter auf eine Weise aktiver geworden, die an bestimmte Nachttiere im Zoo von Memphis erinnerte: an zierliche, kleine, telleräugige Beuteltiere, die - getäuscht durch die ultravioletten Lampen, die ihre Glaskäfige erleuchteten - fraßen und sich putzten und anmutig umherhuschend ihren blätterigen Geschäften nachgingen, stets in der illusorischen Überzeugung, sie seien wohl verborgen im Schutze der Dunkelheit.

Das Rätsel im Hintergrund

Ganz befriedigend ist Donna Tartts zweiter Roman jedoch nicht. Die klare Schärfe ihres ersten Buches ist einer gewissen Trägheit gewichen, die zwar gut zum Schauplatz der Handlung im amerikanischen Süden passt, mitunter aber doch etwas ermüdend wirkt. Über fast 800 Seiten hinweg bemüht sich die zwölfjährige Harriet, den Mann, den sie für den Mörder ihres Bruders hält, zu bestrafen und mit ihrer großen Familie sowie mit ihrem "kleinen Freund" Hely zurechtzukommen.

Das Rätsel um Robins Tod rückt dabei immer mehr in den Hintergrund, weicht einer Betrachtung über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, über die Geheimnisse innerhalb einer Familie und die wahre Bedeutung von Freundschaft. Tartts schreiberisches Talent kann dabei nicht bezweifelt werden. Es ist die Reflexion, die Tartts zweitem Roman bei all seinen Schwächen doch eine gewisse Großartigkeit verleiht, eine Bedeutung, die freilich nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar ist.

Buch-Tipp
Donna Tartt, "Der kleine Freund", ins Deutsche übersetzt von Rainer Schmidt, Goldmann Verlag 2003, ISBN: 344230668X