Fußballmusik - Teil 1
Fangesänge
Willkommen auf dem Fußballplatz, wo es Musik in erstaunlicher Vielfalt gibt. Man muss sich nur umdrehen und einmal nicht aufs Spielfeld, sondern aufs Publikum schauen. Hören sie einmal hin, anstatt zu zuschauen. Eine "FANomelogie" der Fußballgesänge.
8. April 2017, 21:58
Bis November 2007 läuft die Qualifikation für die Fußball-EM 2008. Österreich und die Schweiz sind als Veranstalter fix bei der Endrunde dabei. Aber wir schauen nicht hin, sondern hören in die andere Richtung.
Spiel um Spiel verlieren wir ganz knapp,
Der Gegner schießt ein Törchen mehr und wir,
wir steigen ab
singen die Fans, oder:
Läuft im Spiel mal nichts zusammen und es will und will nicht gehen,
So wolln wir doch geschlossen hinter unsrer Mannschaft stehn.
Das Mikrofon nicht auf die Bühne, sondern aufs Publikum gerichtet haben Reinhard Kopiez und Guido Brink, und gemeinsam eine "FANomelogie" der Fußballgesänge vorgelegt. Einige Widerstände waren wohl zu überwinden, weniger bei den Beforschten als bei den Kollegen.
Die Musikwissenschaft - lange am aristokratischen, großbürgerlichen Gängelband - hört ungern dem Volk zu, dem niederen noch weniger. Sie blickt am liebsten auf Notentexte, die sie Texturen nennt. Jetzt musste sie sammeln, was ungeschrieben war, aufnehmen, was oft gar nicht schön klang, weder virtuos noch rein, hier waren nicht von ihnen ausgebildete am Werk, kein Star, nur ein Kollektiv, das sich weniger als Aufführende sondern als Mitspielende verstand. Die dem Buch beiliegende CD gibt in Zehn-Sekündern Fußballplatz-Stimmung wieder.
Würde das Kollektiv sich nämlich als eines von Auftretenden verstehen, wären Tantiemen zu zahlen, zumindest für jene Melodien, die noch innerhalb der Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers gesungen werden.
Das wären die meisten der Lieder, die neu getextet, in den Stadien gesungen werden, nachdem sie am Campingplatz oder im Bus geübt wurden: "Wünsch DIR was" von den Toten Hosen, "Yellow Submarine" von den Beatles, "Speedy Gonzales"! von Rex Gildo in den 1960ern gesungen, "It's a heartache" von Bonnie Tyler oder Tony Christies "Is this the way to Amarillo?" Und gar nicht so wenige Motive, Ryhthmen oder melodische Floskeln entstammen einer kollektiven Urheberschaft.
Die Fans verzichten auf Wertschöpfung aus ihren Darbietungen - im Gegenteil, sie zahlen noch dafür, singen zu dürfen. Konzertveranstalter lernen nur langsam von den Fußballmanagern: Auch Publikumschöre im Philharmonischen sind eine große Hetz, und immer mehr trauen sich, das auch einzugestehen.
Formal oder struktural zu analysieren gibt es bei Fußballliedern nicht viel: Keine Fugen, oder Sonatensatzformen, sondern Liedformen, die ich beinahe einfach genannt hätte, wenn dieses Wort nicht auch schon parteiisch besetzt wäre.
Klassik spielt eine untergeordnete Rolle in der Fußballmusikforschung. Es tut weder gut noch ist es der Forschung zuträglich, sich die Klassikperlen aus dem Fußballfeld zu fischen, viel spannender ist es, sich hinunter zu beugen vom Klassikhimmel zum Fußballfeld. Chorsänger und -sängerinnen singen sich ein, Fußballfans - der oder die Fan? - schreien, so laut sie können.
Der oder die es schafft, am lautesten zu schreien, ist Gewinnerin des Schreiwettbewerbs. Der Chor - der geprobt hat, sogar einstudiert und dirigiert ist - adaptiert sich die Melodien so, wie er sie brauchen kann; gerade in dem Stimmumfang, der den Sängern und Sängerinnen bequem ist. Wer die Nase rümpft über so viel Bequemlichkeit, schlage nach bei Rossini und Kurt Weill, die ihren Sängern und Sängerinnen aufs Maul schauten um die allerbesten Töne in ihren Kompositionen zu fixieren.
Verordnungen per Stadionlautsprecher funktionieren nicht - nein, Fußballfans sind keine Gläubigen, die sich die Nummern in den Gebet- und Gesangbüchern widerspruchslos vorschreiben lassen und absingen. Das, was um den Fußball komponiert worden ist, wollen die Fans schon gar nicht singen: Weder "Der Theodor, der Theodor" noch "Er steht im Tor", schon gar nicht "Fußball ist unser Leben" oder "Wir wollen Tore sehn". Sie wollen weder Wencke Myrrhe noch den Fischer-Chören nachsingen, auch nicht Theo Lingen.
"Abide with me" war eines der Fußballlieder, sogar dirigiert am Anfang der Spiele der britischen Fans in den 1970er Jahren. Sie sangen "Ertrage mit mir - lasst uns durchhalten", eine Hymne zum Sonnenuntergang, komponiert von William Monk 1861. Alas - jedoch - wie vergeblich, die Sonne, deren Untergang aufhalten zu wollen.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Fußballmusik - Teil 2
Buch-Tipp
Reinhard Kopiez und Guido Brink, "Fußball-Fangesänge. Eine FANomenologie", inklusive CD. Königshausen und Neumann, ISBN 3826014952
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