Beschwichtigung oder Realismus?
Naturgeschichte des letzten Jahrtausends
Josef Reichholf gilt als einer der vielseitigsten Naturwissenschaftler Deutschlands. Ob Regenwald oder Evolution des Zebras - Reichholf kann viele Themen unterhaltsam und streitbar nahe bringen. Nun hat er seinen Beitrag zur Klimadebatte publiziert.
8. April 2017, 21:58
Bevor um die Mitte des letzten Jahrtausends die Kleine Eiszeit hereinbrach und nicht nur kühlere Temperaturen bescherte, sondern auch Seuchen und Hochwasserkatastrophen, erlebte Europa eine Zeit der Blüte und des rapiden Bevölkerungswachstums.
Zwischen dem neunten und dem dreizehnten Jahrhundert vervierfachte sich die Zahl der Menschen, zahlreiche Städte wurden gegründet, unwegsame Landstriche in Kulturland verwandelt. Mediterranes Klima herrschte nicht nur im Mittelmeerraum. Auch nördlich der Alpen wuchs nun der Wein, und am Rhein reiften die Feigen. "Vor 1000 Jahren war es mindestens so warm wie gegenwärtig", sagt der Münchner Zoologe und Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf.
Naturgeschichte der langen Dauer
"Die Gegenwart lässt sich nicht aus der Gegenwart erklären", schreibt Reichholf in seinem Buch, das er "Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends" nennt und zeigt, wie der Mensch auf die Herausforderung "Klima" reagierte. Zeitspannen von einigen Jahrzehnten, wie sie die Klimatologen üblicherweise ihren Berichten und Prognosen zugrunde legen, seien viel zu kurz gegriffen - und könnten die Veränderungen von Großökosystemen nicht plausibel erklären.
Reichholf dagegen fasst einen weit größeren Zeitraum, jenen vom frühen Mittelalter bis heute, ins Auge bei seinem Versuch der "Zusammenführung von Geschichte und Naturgeschichte". Er zeigt, wie Klima und Bodenfruchtbarkeit seit jeher die Geschichte, und nicht nur die Naturgeschichte, mitbestimmten.
Eiszeiten war Katastrophe
Es waren in den vergangenen tausend Jahren in unserem Bereich die warmen Klimazeiten, die für uns die guten Zeiten waren. Die schlechten Phasen des Klimas, die hatten die großen Naturkatastrophen gebracht. Insofern misstraue ich den Vorhersagen, dass mit einer Klimaerwärmung automatisch und allüberall die Erde von immer größeren Naturkatastrophen heimgesucht werden würde. Die großen Katastrophen waren die eiszeitlichen Rückschläge, aber nicht die Warmzeiten.
Doch auch in warmen Zeiten war nicht alles rosig, in Kältezeiten nicht alles verheerend. Wo kein Wein wuchs, wurde Bier zum Volksgetränk, wo die Menschen froren, boten lehmverputzte Fachwerkhäuser Kälteschutz. Not macht erfinderisch. Allzu günstige Bedingungen andererseits können einen "Bevölkerungsdruck" bewirken: zu viele Menschen auf zu kleinem Raum. Die Reaktionen darauf waren drastisch: Männer wurden auf Kreuzzüge geschickt, Frauen ins Kloster gesteckt - der Bevölkerungsüberschuss war wieder ausgeglichen.
Streben nach Größe
Aber ignoriert die Vorstellung eines der Geschichte innewohnenden evolutionären Regulativs nicht die Tatsache, dass es für verlustreiche Schlachten auch andere Gründe gab als demographische - das Streben nach Größe, nach Reichtum und Macht?
Die klimatischen Bedingungen sind aus ökologischer oder biologischer Sicht Rahmenbedingungen. Innerhalb dieses Rahmens sind bestimmte Entwicklungen möglich. Wird dieser Rahmen zu eng, weil das Klima für die menschlichen Ansprüche zu ungünstig geworden ist, dann sind auch die Spielräume geringer. Das bedeutet nicht, und darauf kommt es mir entscheidend an, dass ein biologischer Determinismus in der Geschichte stecken würde. Die Natur schreibt nicht vor, was werden muss. Sie gibt die Möglichkeiten, was werden kann in diesem Rahmen.
Reichholfs Buch ist eine Provokation
Erschienen praktisch zeitgleich mit dem UN-Klimaschutzbericht, schlägt die "Kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends" ganz andere Töne an, sie vertraut auf das Spiel der Evolution, attestiert der Klimaerwärmung positive Effekte für Mensch und Natur und will von Untergangsstimmung nichts wissen.
"Auf der Zeitachse der vergangenen 1.000 Jahre könnten die letzten 30 Jahre signifikanter Klimaveränderung für die weitere Zukunft eine ähnlich bedeutungslose Abweichung sein wie die Serie extrem kalter Winter im 16. Jahrhundert", schreibt Josef Reichholf. Die Evolution kennt keine besten oder einzig richtigen Zustände, die es mit allen Mitteln zu erhalten oder wiederherzustellen gelte. Wir sollten also den Klimawandel, wenn er denn tatsächlich und dauerhaft sich einstellen sollte, nicht verhindern wollen, sondern ihn akzeptieren.
Kollektiver Egoismus gefordert
Reichholf will damit nicht einer neuen Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt das Wort reden, nach dem Motto, die Natur wird's schon richten. Er plädiert vielmehr für eine realistische Einschätzung des Machbaren und verspricht sich von Restriktionen und ehrgeizigen Zielen keine Erfolge in der Umweltpolitik. "Einen wirklichen Fortschritt", glaubt der streitbare Professor, "werden nur die gesammelten Egoismen der Völker zustande bringen."
Reichholfs "Kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends" präsentiert frappierende Befunde, ihrer Argumentation kann man sich schwerlich entziehen - obwohl es nicht leicht fällt, angesichts eines starken Bevölkerungswachstums und steigender materieller Ansprüche, die zu rapider Ressourcenvernichtung und immenser Umweltbelastung führen, das Urvertrauen des Autors in einen für uns positiven Prozess der Evolution zu teilen.
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Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:45 Uhr
Buch-Tipp
Josef H. Reichholf, "Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends", S. Fischer Verlag, ISBN 9783100629425
Link
Fischer Verlag - Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends