Popmusik für Millionen

Das größte Archiv für Popmusik

Das New Yorker Popmusik-Archiv ARChive besitzt je zwei Exemplare von jeder seit 1950 in den USA erschienenen Schallplatte. Die Sammlung wird durch die Columbia University übernommen und als Recherchezentrum der Popmusik für jedermann zugänglich.

Bob George über seinen größten Coup

Nichts ist mehr so wie es einmal war im New Yorker Stadtviertel Tribecca. Wo einst Musiker und Straßenphilosophen verkehrten, ist eine Mischung aus Schickimicki und Society-Spielplatz entstanden. Die Lofts hinter den historischen Gusseisenfassaden zählen zu den begehrtesten in ganz Manhattan.

Keine Schaufensterdekoration, die nicht auch einen Platz im Designmuseum verdienen würde. Alles ist sauber, edel und nichts mehr wirklich authentisch. Die Lagerhalle Nummer 54 an der White Street ist eine Ausnahme.

LPs auf dem Abfallhaufen

Es ist ein Glückstag für Bob George. Der Mittfünfziger mit dem grau melierten Dreitagebart sitzt vor dem Computer, doch er ist nicht so recht bei der Sache. Immer wieder gleitet sein entzückter Blick hinüber zum Nebentisch: Dort steht, in einem reichlich verwitterten Pappkarton, sein neuester Fund.

"Früher konntest du hier in der Gegend nicht einmal ein Stück Spanplatte auf den Bürgersteig stellen, ohne dass es gleich jemand mitnahm", erzählt Bob. "Heute ist das anders: Die Leute sind so wohlhabend geworden, sie kaufen lieber neu. Mir soll's recht sein, denn eben habe ich im Sperrmüll 70 LPs auf einmal gefunden: Alle in perfektem Zustand! Ich bin wie ein Magnet - wo ich auch hingehe, die Musik kommt auf mich zu."

Das größte Pop-Archiv

Bob George ist nicht irgendein fanatischer Plattenramscher, sondern der Kopf und Gründer von ARChive, dem weltweit größten Archiv für Popmusik. Seine Liebe zur Musik entdeckte der gelernte Kunstlehrer durch Laurie Anderson. Die beiden unterrichteten an derselben High School, taten sich zusammen und produzierten die erste Single der Sängerin. "Oh Superman" stürmte gleich nach Erscheinen die Charts.

Bob George machte sich daraufhin als Discjockey einen Namen. Ob Punk, Hiphop und Reggae - er spielte alles, was neu und experimentell war. Plattenfirmen aus aller Herren Länder schickten ihre Neuerscheinung zu. Am Ende besaß Bob 50.000 Alben und wusste nicht mehr wohin damit. Und so wurde aus dem DJ ein Archivar.

20 Millionen Songs

Bobs Sammlung ist mittlerweile auf zwei Millionen Alben mit insgesamt 20 Millionen verschiedenen Liedern angeschwollen. Alle werden fein säuberlich registriert, fotografiert und katalogisiert. Eine Sisyphusarbeit, denn das ARChive-Team besteht aus gerade mal drei Mitarbeitern.

Bob ist für die Insiderkontakte zuständig. Seine Bekanntschaften in der Szene lesen sich wie ein Who-is-Who der Popgeschichte und bilden die finanzielle Basis für ARChive. David Bowie signierte Platten für Benefizveranstaltungen, Johnny Cash stiftete Regale, die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Randphänomene und das gesprochene Wort

Bobs Leidenschaft kennt keine Grenzen. Er nimmt alles, was zur Chronik des Pop beiträgt. Qualität und Popularität spielen für den Archivar eine untergeordnete Rolle.

Überhaupt ist das so eine Sache mit der Popularität, denn Randphänomene können ganz schnell in den Mittelpunkt rücken. Vor den Anschlägen vom 11. September etwa waren Songs über Terror fast nur etwas für Punkfans. Das hat sich geändert.

Bobs liebste soziokulturelle Kuriosität sind die Aromaplatten aus den 60er Jahren, die zugleich als Musik und Raumparfum fungierten. Auch das gesprochene Wort kommt nicht zu kurz. ARChive bietet ein ganzes Regal voller politisch relevanter Aufnahmen. Darunter: Ein einstündiger Monolog von Harvey Lee Oswald, dem mutmaßlichen Mörder von US- Präsident John F. Kennedy.

Das Archiv wird öffentlich

Bislang durften nur Musikwissenschaftler in die Schätze von ARChive reinhören, sowie DJs, die zu gelegentlichen Benefizveranstaltungen eingeladen wurden. Doch das ändert sich jetzt. ARChive wird demnächst durch die New Yorker Columbia University übernommen und als das weltweit erste Recherchezentrum der Popmusik für jedermann zugänglich.

Bob George kann es kaum erwarten, das Tagegeschäft an andere zu übertragen. Der Archivar hat schon ein neues Projekt: Er will die Welt bereisen, um seine Sammlung international zu erweitern. Neulich hat er sich in Nigeria bereits mit 214 Aufnahmen des Aktivistensängers Fela Kuti eingedeckt.

Geheimtipp für Sammler

Ein anderer Geheimtipp von Bob: "Der beste Platz, um Platten zu kaufen, ist nach wie vor Paris: Es ist nicht ganz billig dort, aber immer noch billiger als in England. Auch Ebay ist viel zu teuer, da musst du gegen die ganze Welt bieten! Außerdem fehlt mir im Internet dieser zwischenmenschliche Kontakt: Ich will so viele Musiker wie möglich persönlich treffen."

Bob George ist ein Mann, der den amerikanischen Traum nicht mit Geld, sondern mit seiner Seele träumt. Die Künstler wissen es zu schätzen. Jedes Mal, wenn der Archivar zu Hause eine Party macht, kreuzt mindestens eine Berühmtheit auf. Bei der letzten Fete haben Robyn Hitchcock von REM und Fred Schneider von B52 drei Stunden lang einfach so drauflos gespielt. Ein Moment anachronistische Lokalkultur, wie man sie heute im schickgewordenen Tribecca nur noch selten findet.

Links
The ARChive of Contemporary Music
Columbia University

Hör-Tipp
Leporello, Montag bis Freitag, 7:52 Uhr