Andreas Hirsch über neues Kollaborieren im Netz

Die Arbeiter von Wien

Ein kleines Grüppchen singt am Schwedenplatz in Wien: "Wir sind die Arbeiter von Wien." Das können wohl nicht die heutigen Arbeiter von Wien sein, denn "Arbeiter" und "Proletariat" gibt es so wie manche andere soziale Identität längst nicht mehr.

An einem sonnigen Mittag im Mai 2007 baut sich ein kleines Grüppchen am Schwedenplatz in Wien auf und singt: "Wir sind die Arbeiter von Wien." Die, die da singen, sind Mitglieder von Stimmgewitter, dem Clochard-Klangkörper (Eigendefinition) der Obdachlosenzeitung "Augustin", selbst mehrheitlich auf der Straße oder in Asylen lebend. Ihre mitreißende Interpretation des legendären Liedes der Arbeiterschaft aus den antifaschistischen Kämpfen der Zwischenkriegszeit macht fröhlich und nachdenklich zugleich.

"Wir sind die Zukunft, wir sind die Tat." In dieser Liedzeile aus dem Munde von Obdachlosen steckt beklemmende Wahrheit: Das Prekariat - ungeschützte Arbeitende und Arbeitlose - trat in den post-industriellen Gesellschaften an die Stelle des Proletariats, in Deutschland acht Prozent der Gesamtbevölkerung, rund 6,5 Millionen Menschen. Die "neue Armut" erfasst Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, die zumeist zwar Arbeit und Einkommen haben, aber schlicht und einfach nicht genug für Essenzielles wie Wohnung, Heizung oder Medikamente. In Österreich sind rund 250.000 Erwerbstätige armutsgefährdet.

Neue Armut also spielt sich nicht an den Rändern der Gesellschaft ab, sondern in ihrer Mitte. Sie geht einher mit einem Verlust an sozialem Kapital, der Teilhabe an einem Netz sozialer Beziehungen und damit der Nutzung von Ressourcen. Ein Verlust an sozialem Kapital trifft die Einzelnen ebenso wie ganze Gesellschaften mit schwindendem Vertrauensklima, in denen die Bereitschaft der Bürger abnimmt, miteinander zu kooperieren, in denen auch kleinste Konflikte nicht mehr selbst gelöst, sondern über die Gerichte ausgetragen werden.

Rund um das Internet und die vielfältigen Communities, die es beherbergt, ermöglicht und stimuliert, ist eine neue Kultur der Kollaboration entstanden, die der Erosion von sozialem Kapital in den post-industriellen Gesellschaften entgegenwirkt. Wikipedia, Online-Selbsthilfegruppen und virtuelle Welten sind angewandte Labors für neue Formen sozialen Zusammenhalts - auch ein gutes Gegenbeispiel für die viel beschworene Vereinsamung der Menschen an ihren Computern. Soziale Verantwortung und ehrenamtliches Engagement zählen in der virtuellen Welt wieder - und sie tun es auch wieder in der realen Welt.

Die 2000 gegründete Wiener Tafel, zu deren Feier die "Arbeiter von Wien" intoniert wurden, ist von diesem Geist getragen. Ein Online-System erlaubt die Koordination der Arbeit vieler Freiwilliger, die verderbliche Überschüsse von den sprichwörtliche n Tischen der Reichen - Gastronomie, Lebensmittelhandel usw. - rasch auf die Tische der alten und neuen Armen bringen - etwa Obdachlosenasyle. Informations- und Kommunikationstechnologie wird hier effizient eingesetzt, um anstelle langer Diskurse über die Verbesserung der Welt konkrete Hilfe zu leisten.

Projekte wie die Wiener Tafel, die an ihrer langen Tafel Spender, Helfer und die Empfänger der Speisen versammelte, und in ganz anderer Weise auch der Augustin, den man direkt von einem Obdachlosen erwirbt, arbeiten am Schließen einer Lücke, die keineswegs nur logistischer Natur ist.

Diese Lücke besteht in der die Wohlhabenden schützenden Kluft, die sie von der lästigen und erschütternden Realität des Leidens des anderen trennt. Geld zu spenden ist da in seiner Abstraktion nur ein Sympathisieren aus der sicheren Distanz. Die eigentliche Aufgabe aber bestünde darin, an dem Abbau dieser Kluft zu arbeiten und sich direkt tätig an den leidenden Anderen zu wenden. "Wir sind die Zukunft, wir sind die Tat."

Andreas Hirsch ist Experte für die Kreation und Entwicklung kultureller Systeme.

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