Pille gegen Lethargie
Unentschlossen
Die Unentschlossenheit ist die Krankheit der amerikanischen Mittdreißiger, findet Benjamin Kunkel, und verordnet seinem Protagonisten eine Pille dagegen. Kunkel hat einen modernen Bildungsroman geschrieben, der mit intelligentem Humor überzeugt.
8. April 2017, 21:58
Angenommen, es gäbe ein Mittel gegen chronische Unentschlossenheit, gegen Zögern und Zaudern; angenommen, man müsste täglich eine Pille schlucken und hätte die klare Entscheidungskraft, würden wir nicht alle jemanden kennen, der das dringend einnehmen sollte? Oder wären wir das möglicherweise sogar selbst? Benjamin Kunkel trifft mit seinem Debüt "Unentschlossen" ein gegenwärtiges Bedürfnis.
In den Tag hinein leben
Der Protagonist, Dwight Wilmerding, hat ein abgeschlossenes Philosophiestudium, aber einen Job, der gar nichts mit dem Erlernten zu tun hat - er ist beim Pharmakonzern Pfizer im Technical support tätig. Teilnahmslos, passiv, politisch uninteressiert, ja fast lethargisch lebt der 28-Jährige in den Tag hinein, in einer WG mit vier, manchmal fünf Freunden - wohl wissend, dass sie alle längst aus dem studentischen WG-Leben hinausgewachsen sind. Ein Dahinleben wie das eines Teenagers, finanziert von den Eltern, was das Ganze nicht besser macht und eher früher als später zur Midlifecrisis führt.
Ich konnte erst an die Zukunft denken, wenn ich dort angekommen war.
Hinzu kommt die krankhafte Willenlosigkeit, die chronische Unentschlossenheit, kurz Abulie, genannt. Die zeigt sich im banalen Alltag - etwa welchen Bagel er kaufen soll -, um dann auf eine Hälfte Schokoladecreme, auf die andere Pesto zu schmieren, oder in den doch gewichtigeren Dingen: Soll er mit der Frau, mit der er beinahe jede Nacht verbringt, eine Beziehung eingehen oder ein lockeres Verhältnis weiterspielen?
Der Weg zum Glück?
Freiheit und Klarheit sucht Dwight in den Thesen von Martin Heidegger, der unter dem Pseudonym Otto Knittel erscheint. Einerseits liest Dwight also Heidegger bzw. Knittel, andererseits wirft er Münzen, um Entscheidungen zu treffen. Immer nach Höherem streben oder Mittelmäßigkeit akzeptieren? Zweiteres ist sicher einfacher und Dwight fragt sich, ob das der Weg zum Glück ist.
Nachts mochte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich mich in meiner Mittelmäßigkeit so gut eingerichtet hatte, doch wenn ich vor meinem Terminal saß und mich auf meinem serienproduzierten Bürostuhl leicht hin und her drehte, dann hatte ich irgendwie das Gefühl, wenn ich diesen opportunistischen, amerikanischen Job, den irgendwer ja schließlich machen musste, nur weiterhin mit dem angemessenen Eifer erledigte, dann war alles, was mit mir oder mit meinem Land passierte, nicht mehr meine Schuld.
Auf nach Ecuador!
Eines Nachts offeriert ihm sein WG-Freund Dan einige Pillen, die er aus dem Labor mitgebracht hat. "Abulinix" heißt das Zaubermittel und soll gegen den Verlust der Entscheidungsfähigkeit helfen. Es ist noch nicht wirklich getestet, Dwight könnte einer der Probanden sein. Und wird das natürlich auch umgehend.
Fortan sucht Dwight nach ersten Ergebnissen dieses Medikaments. Die erste große Entscheidung führt ihn nach Ecuador, zu einer ehemaligen Klassenkollegin. Mit dem Anflug auf Bogota beginnt dieser moderne Bildungsroman, der mit intelligentem Humor überzeugt.
Wider den Medikamentenmissbrauch
Autor Benjamin Kunkel hält den täglichen Gebrauch von Medikamenten und chemischen Drogen für bedenklich. Und damit unterscheidet er sich von einigen der in den letzen Jahren gehypten Pop-Autoren im deutschsprachigen Raum. Während die glauben, ein exzessives Leben führen und in diversen TV-Shows unangenehm auffallen zu müssen, nervt es den 33-jährigen Kunkel eher, dass er kaum Zeit zum Schreiben hat.
Kunkel selbst sieht sich eher als Gegenposition seines Protagonisten. Er habe immer schon gewusst, dass er schreiben wolle und sei auch sonst entscheidungsfreudiger als Dwight. Umso heller dann die Erleuchtung von Dwight, die ihn letztendlich doch einsichtig, vernünftig und politisch werden lässt, aber genau die ist möglicherweise für europäische Leser nicht ganz nachvollziehbar. Da ist ein bisschen zu viel von allem. Aber vielleicht ist es gerade das, was den Hollywood-Produzenten Scott Rudin dazu veranlasst hat, die Filmrechte von "Unentschlossen" zu kaufen, noch bevor das Buch überhaupt erschienen war.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Benjamin Kunkel, "Unentschlossen", aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Röder, Berlin Verlag, 2006, ISBN 978-3827006806